Hirngespinst Willensfreiheit? Wie die Neurowissenschaften unser Menschenbild beeinflussen

Podiumsdiskussion, Max Weber Stiftung

Die Willensfreiheit als Möglichkeit, sich zwischen Handlungsoptionen entscheiden zu können, bildet einen wichtigen Ausgangspunkt in unserem Denken über den Menschen – einige Neurowissenschaftler ziehen die Existenz eines freien Willens jedoch in Zweifel. Da alle Gehirnleistungen auf neurochemischen Vorgängen beruhen, ist dies mit einer autonomen geistigen Willensbildung schwer vereinbar. Zugespitzt formuliert würde ein Verbrecher, bei dem bestimmte Hirnprozesse anders ablaufen, entsprechend seiner genetischen Disposition handeln und wäre für dieses Handeln moralisch nicht verantwortlich. Ist der freie Wille also nur eine Illusion? Wenn die Beschaffenheit des Gehirns den Menschen von selbstbestimmten Entscheidungen freispricht, wirft dies Fragen auf, denen sich auch die geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu stellen haben.

Eine Infragestellung der Willensfreiheit hat zudem konkrete Auswirkungen auf die Schuldfrage in der Rechtsprechung. Schuldfähigkeit erfordert ein Mindestmaß an Selbstbestimmung und die Einsicht in das eigene Handeln. Fehlt diese Vorbedingung, bedeutet dies zumeist Maßregelvollzug oder Sicherungsverwahrung. Auf neuromedizinischem Weg in bestimmte Verhaltensweisen einzugreifen und damit verhütend auf Wiederholungstäter einzuwirken, ist möglich. Ob sich solche Maßnahmen vor dem Hintergrund ethischer und moralischer Maßstäbe aber anwenden lassen, erscheint fraglich. Kritiker befürchten einen Rückfall in Zeiten, in denen die Kriminologie mit der Medizin eine unheilige Allianz einging und Menschen mit bestimmten anatomischen Merkmalen eine Neigung zur Straffälligkeit unterstellt wurde.

Muss unser Verständnis von Moral, Ethik und Schuld neu definiert werden? Welche Rolle spielen die Neurowissenschaften in unserer Kultur und Gesellschaft? Sind sie zu einer modernen Leitwissenschaft geworden? Welche Lehren können wir aus der historischen Entwicklung der Strafjustiz ziehen? Bedarf es einer Reform des Strafrechts auf der Grundlage neurologischer Befunde? Dürfen Auffälligkeiten präventiv korrigiert werden?

Zu einer Diskussion dieser und weiterer Fragen laden wir Sie herzlich am 26. November 2013 um 19 Uhr in den Gartensaal des Hotel Basler Hof in Hamburg ein. „Geisteswissenschaft im Dialog“ ist eine gemeinsame Veranstaltung der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften, der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.

 

Referenten

Prof. Dr. John-Dylan Haynes (Bernstein Center der Charité Berlin)

ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und darüber hinaus hat er die Professur für "Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale" am Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin inne. Die Forschungsschwerpunkte des Psychologen und Hirnforschers umfassen die Entschlüsselung mentaler Zustände anhand von Gehirnsignalen sowie Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Entscheidungen.

 

Prof. Dr. Reinhard Merkel (Universität Hamburg)

ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Außerdem ist er seit April 2012 auf Vorschlag der Bundesregierung Mitglied im Deutschen Ethikrat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Rechtsphilosophische Grundlagenforschung, Rechtsethik, normative Probleme der Philosophie des Geistes sowie Recht und Ethik in der Medizin und in den Neurowissenschaften. Er veröffentlichte u. a. das Buch „Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“.

 

Prof. Dr. Dr. Reinhard Werth (LMU München)

ist Professor für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Neuropsychologe am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin. Er habilitierte sich sowohl für Medizinische Psychologie als auch für Wissenschaftstheorie. Neben dem Gebiet Legasthenie beschäftigt er sich mit seiner Forschung schwerpunktmäßig mit dem Bewusstsein. 2010 veröffentlichte er das Buch „Die Natur des Bewusstseins. Wie Wahrnehmung und freier Wille im Gehirn entstehen“.

 

Dr. Richard Wetzell (Deutsches Historisches Institut Washington D.C.)

ist seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Washington, einem Institut der Max Weber Stiftung. Seine Forschung konzentriert sich auf den Schnittpunkt von Rechtsgeschichte, Wissenschafts-geschichte und Politikgeschichte im modernen Deutschland. Er schreibt derzeit an einer Geschichte der deutschen Strafrechtsreformbewegung von 1870–1970. Seine weiteren Forschungsinteressen umfassen darüber hinaus die Geschichte sozialer Abweichung und Psychiatriegeschichte.

 

Moderation: Martina Kothe     

studierte Sinologie in Freiburg und Hamburg, bevor sie als Moderatorin beim Norddeutschen Runkfunk tätig wurde.  Seit 2003 moderiert sie bei NDR Kultur unter anderem „Klassik à la carte“.