GiD Lab: Erinnerungskulturen im Zeichen von geschichtspolitischem Stress: aktuelle Herausforderungen in Deutschland, Polen und Russland

27.01.2021, Podiumsdiskussion, Online

Am 27. Januar findet im Rahmen des Hauptseminars „Der deutsche Vernichtungskrieg im östlichen Europa 1939-1945“ von Prof. Dr. Martin Aust, Leiter der Abteilung für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn, eine Online-Podiumsdiskussion zu Erinnerungskulturen in Deutschland, Polen und Russland statt. Die Veranstaltung aus der Reihe „Geisteswissenschaft im Dialog“ (GiD) ist eine Kooperation der Max Weber Stiftung (MWS) mit ihrem Deutschen Historischen Institut in Moskau sowie der Universität Bonn und steht allen Interessierten offen. Eine Anmeldung ist bis zum 25. Januar 2021 möglich.

In den zurückliegenden dreißig Jahren ist eine neue Erinnerungskultur entstanden. Sie stellt die Verfolgten und Opfer von Diktaturen und Massenverbrechen in den Mittelpunkt. In jüngster Zeit – vor allem aus Anlass des 80. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags und seines geheimen Zusatzprotokolls, des Beginns des Zweiten Weltkrieges 1939 sowie in Verbindung mit dem 75. Jahrestag seines Endes 1945 – hat jedoch die Politik den Umgang mit der Vergangenheit konfliktreich aufgeladen. In Deutschland, Russland und Polen sind geschichtspolitische Tendenzen kritisch zu beobachten, die zwar vom Inhalt her grundverschieden, in ihrer Funktion jedoch sehr ähnlich sind: es geht nicht mehr um einen Dialog, sondern um eine affirmative Selbstbespiegelung.

Das politisch motivierte Sprechen über die Vergangenheit reanimiert vielfach nationale Abgrenzungsdiskurse, in denen es um feste Zuschreibungen geht, wer als Opfer und wer als Täter zu gelten hat. Diese konfrontative Ausrichtung macht eine von Empathie mit Verfolgten und Opfern geleitete Erinnerungskultur kaum möglich. Doch gleichzeitig und verbunden mit dem Verlust der letzten Zeitzeugen, entstehen neue – noch von der politischen Macht unabhängige – Formate der Kriegserinnerung. Es kommen vergessene und unbequeme, heroische und leidvolle Geschichten an das öffentliche Licht. Diese sind nicht mehr unpersönlich oder abstrakt und haben somit das Potential, die Gesellschaften gegen die Ausgrenzungsdiskurse der Gegenwart zu sensibilisieren.

Das Podium diskutiert, welche Wege zum Erhalt und zu einer Revitalisierung einer lebendigen, empathischen und lokal verwurzelten Erinnerungskultur denkbar sind – sowohl innerhalb von Gesellschaften als auch über Ländergrenzen hinweg. Warum an den Zweiten Weltkrieg erinnern: Welche Bedeutung hat die Vergangenheit für unsere Gegenwart? Wie können wir das Konfrontative, das uns die Geschichtspolitik aufzwingt, überwinden und zurückkehren zu dialogischem Erinnern und gegenseitiger Empathie? Wie lässt sich eine in den Gesellschaften Osteuropas doch sehr lebendige Erinnerung im deutschen Gedächtnis verankern, ohne eine Opferkonkurrenz entstehen zu lassen? Liegt womöglich in der tatsächlichen Verbindung der Erinnerung an den Holocaust mit dem Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion eine Chance, das festgefügte Gedenken wieder zugänglicher, weil fassbarer, zu gestalten?

Diese und weitere Fragen diskutieren:

Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau, studierte Geschichte und Germanistik in Warschau. Dort wurde er 1984 promoviert und habilitierte sich 1991 mit einer Arbeit über Polen in den internationalen Beziehungen 1945–1947; seit 1996 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau; leitete von 2010 bis 2016 zusammen mit Joachim von Puttkamer das Imre Kertész Kolleg Jena; 2016-219 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel sowie Mitglied des Kuratoriums; Begründer und Chefherausgeber der Polskie Dokumenty Dyplomatyczne (Polnische Diplomatische Akten; bislang 24 Bände); 2020 Preisträger des Internationalen Forschungspreises der MWS beim Historischen Kolleg.

PD Dr. Andreas Hilger, Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau, geb. 1967, Promotion 1998 über „Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941-1956“, Habil 2015 über „sowjetisch-indische Beziehungen 1941-1966“; wiss. Mitarbeiter u.a. Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Univ. Köln und Univ. Marburg, Vertretungsprofessuren Neuere Geschichte und Osteuropäische Geschichte Univ. Heidelberg, ab 2019 Stellv. Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau; Forschungsschwerpunkte u. a. deutsch-sowjetisch/russische Beziehungen, sowjetische Geschichte, Geschichte der Internationalen Beziehungen; Publikationen neben der Diss. (2000) und Habil (2018) sowie diversen Aufsätzen über sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam: Das ist kein Gerücht, sondern echt. Der BND und der Prager Frühling, Marburg 2014 (zs. mit Armin Müller); Rotarmisten in deutscher Hand, Paderborn 2012, Internationale Geschichte seit 1945, Stuttgart 2021; UN Peacekeeping: Cold War & After, Special issue Journal of Cold War Studies (Hg. zusammen mit Swapna Kona Nayudu); Die Auslandsaufklärung des BND, Berlin 2021 (Hg., zusammen mit Wolfgang Krieger und Holger Meding).

Hera Shokohi, BAUniversität Bonn, studiert im Master Osteuropäische Geschichte. Zuvor studierte sie ebenfalls in Bonn Philosophie, Geschichte und Bildungswissenschaften. Von 2018-2020 war sie als Studentische Hilfskraft am Institut für Philosophie tätig, seit 2019 ist sie Wissenschaftliche Hilfskraft in der Abteilung für Osteuropäische Geschichte. Sie beteiligte sich an dem Projekt „Bonner Leerstellen“ und war für die Redaktion der studentischen Beiträge zuständig. In ihrer Bachelorarbeit untersuchte sie den erinnerungskulturellen Umgang mit den Opfern stalinistischer Gewalt im postsowjetischen Kasachstan. Ihre Forschungsinteressen sind deutsche und osteuropäische Erinnerungskulturen, sowjetische Geschichte sowie erinnerungskulturelle Theorien. Außerakademisch arbeitet sie an ihrer Seite „Zeitfinderin“ auf Instagram, wo sie historische Ereignisse, Grundbegriffe der Geschichte und Erinnerungsorte erklärt.

Dr. Ekaterina Makhotina, Universität Bonn, (Moderation) ist promovierte Osteuropahistorikerin. Sie studierte Geschichte und Bohemistik in Sankt Petersburg, Karlsruhe, Regensburg und München. Von 2011 bis 2016 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist seit 2016 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskulturen in Russland und in Ostmitteleuropa, Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert sowie Sozialgeschichte und Geschichte der Strafpraxis im frühneuzeitlichen Russland. Sie leitete mehrere Projekte zu den unbekannten Orten der NS-Gewalt in Deutschland, vor allem zu den Schicksalen der ZwangsarbeiterInnen und sowjetischer Kriegsgefangenen („Münchner Leerstellen“, „Bonner Leerstellen“). Für ihre wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Arbeit wurde sie 2017 mit dem Preis der Peregrinus-Stiftung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.


Wann? 27. Januar 2021, 10-12 Uhr
Wo? Online
Anmeldung: per E-Mail an gid(at)maxweberstiftung.de bis zum 25. Januar 2021

Mehr zur Veranstaltungsreihe "Geisteswissenschaft im Dialog": gid.hypotheses.org