Der Begriff »Natur« ist anziehend und einschüchternd zugleich: für die einen beschreibt er was gegenwärtig unter dem Einfluss des Menschen zu verschwinden droht, für die anderen verkörpert er ein moralisches Grundprinzip, in dessen Namen man über unsere Handlungen, ihr natürliches oder widernatürliches Wesen urteilt. Der Versuch, einen solchen Begriff zu bestimmen, führt zwangsläufig zu negativen Bestimmungen: die Natur ist nicht zuletzt durch dasjenige bestimmt, was sie nicht ist (Kultur, Künstlichkeit, Anthropisierung etc.).
Vor dem Hintergrund dieser paradoxen und vieldeutigen Struktur des Begriffs »Natur« geht das Jahresthema 2024/26 davon aus, dass »Natur« weniger eine statische, allgemeinverbindlich fassbare Größe bezeichnet als vielmehr ein ideelles Konzept und eine Abstraktion (Philippe Descola). Das zeigt sich beispielhaft in den vielfachen Verflechtungen zwischen Natur und Kunst. Indem die Kunst die Natur zum Gegenstand ihrer Werke macht, sie als künstlerisches Material, als Ideal und Utopie, aber auch als Gegenentwurf adressiert, vermittlelt ihre konkrete Arbeit am Werk eine bestimmte Idee der Natur. Von der Urhütte als »natürlichem« Ursprung der Architektur (Gottfried Semper) über das Projekt Cézannes, »Poussin auf dem Umweg über die Natur zu erneuern« bis hin zu den aktuellen Debatten über das Anthropozän als Stadium eines denaturalisierten Lebens auf der Erde sind Konzepte der Natur in der Kunst allgegenwärtig und bestimmen die unterschiedlichsten Entwürfe und Verfahren: Malen nach der Natur, »natürliche Malerei« (John Constable), »die Natur – nicht das Werk des Künstlers – als Vorbild« (Lysipp nach Plinius d.Ä.), Moulagen und andere Abformungen der Natur, Natur als schöpferische Kraft und Bildproduzentin (Talbots Pencil of Nature), Lob der Künstlichkeit als Gegenentwurf zur verabscheuenswürdigen Natur (Baudelaire). Diese Verbindungen von Natur und Kunst umfassen die verschiedenen Gattungen der Kunst ebenso wie ihre geschichtliche Entwicklung.
Die Ausschreibung ist historisch bewusst offen gehalten. Willkommen sind Beiträge von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Methodisch und inhaltlich sollten sich die Projektskizzen an einem der folgenden Themenfelder orientieren: Geschichte der Landschaft, Kunst und Ökologie, Kunst und Biologie, Kunstgeschichte und Anthropologie, animal studies, Kunst und Anthropozän, die Rolle der Natur in Kunstliteratur und Kunstkritik.
Zum genannten Thema vergibt das DFK Paris zum 01.10.2024 mehrere Forschungsstipendien (Dauer: 24 Monate). Interessierte mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium der Kunstgeschichte oder anderer fachnaher Disziplinen (Doktorand:innen und Postdocs), die zum ausgeschriebenen Thema forschen, sind eingeladen, sich mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Empfehlungsschreiben der betreuenden Dozent:innen, Zeugnisse, ggf. Publikationsliste, Angabe der Sprachkenntnisse) sowie einer Projektskizze (max. 3 Seiten, dazu Zeitplan und Literaturverzeichnis) zu bewerben.
Die Bewerbungsunterlagen sind in einem einzelnen PDF-Dokument an stipendien(at)dfk-paris.org bis zum 23.05.2024 zu richten. Die Vorstellungsgespräche finden voraussichtlich in der 24. Kalenderwoche am DFK Paris statt.
Leitung: Peter Geimer (DFK Paris) und Pierre Wat (Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne)
Koordination: Élodie Vaudry