Die Architektur der 'hâne' in der osmanischen Vokalmusik

Dr. Cüneyt Ersin Mıhcı

Ein musikalisches Werk wie ein Haus, gebaut aus Tönen, Texten und Rhythmen – doch was passiert, wenn eines der Elemente aus dem Gleichgewicht gerät? Ersin Mıhcı erforscht am Orient Institut Istanbul, wie osmanische Musik geschaffen und weitergegeben wurde und wie diese Kunst durch den Einfluss westlicher Musik tiefgreifend verändert wurde.

Das Komponieren von Musik gehört zu den grundlegenden kulturellen Merkmalen menschlichen Schaffens. Auch im Osmanischen Reich war das nicht anders. Oft wird das Komponieren als etwas wahrgenommen, das einzig aus dem Erfindungsreichtum ihres Schöpfers entsprungen ist. Das trifft aber nur teilweise zu. Ein anderer Teil nämlich, folgt vorgegebenen Gesetzen wie musikalische Form, Gattung, Struktur oder Aufbau, melodische Entwicklung und die Beziehung des gesungenen Wortes zur Melodie. Das Verhältnis zwischen den vielen Elementen der Musik, von der äußeren Ebene angefangen (Gattung und äußerliche Struktur) bis zur inneren Ebene (Tondauer, Tonhöhe, gesungene Silben) bringen eine Komposition hervor. Wollte man die Verhältnisse zwischen diesen Elementen beim Komponieren im Gleichgewicht haben, um den dominierenden ästhetischen Ansprüchen zu genügen, war ein hohes Maß von mathematischem Verständnis nötig. Dass das Komponieren daher zu den Handwerken gehörte, sieht man auch an der früheren Berufsbezeichnung „Tonsetzer“. Ob eine Komposition als gelungen erachtet wurde, hing wesentlich von konventionellen Hörerwartungen und Hörgewohnheiten des Publikums ab. In der osmanischen Kunstmusik scheinen ähnliche Prinzipien gegolten zu haben. In meiner Forschung beschäftige ich mich daher mit der Frage, aus welchen musikalischen Elementen sich osmanische Vokalmusik des 18./19. Jahrhunderts zusammensetzten und in welchem Idealverhältnis diese zueinanderstanden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die osmanische Musik eine Musik war, die, anders als die Europäische, nicht verschriftlicht wurde. Im Studium lernte man neben den verschiedenen musikalischen Elementen der osmanischen Musik, auch Etikette des höfischen Musizierens und andere Gepflogenheiten in einem Lehrlingsverhältnis das viele Jahre dauerte. Hatte man diese Ausbildung abgeschlossen, war man in der Lage das Repertoire des Meistermusikers auswendig zu spielen und sich ein Stück auf Basis von wenigen notierten Informationen wie Liedtext, Modus, Metrum und rhythmischen Zyklus wieder ins Gedächtnis zu rufen, um es anschließend aufzuführen.

Die hâne als Rahmenkonzept in Architektur und Komposition

In meiner Forschung untersuche ich welche musikalischen Elemente bei der Vorbereitung oder Aufführung eines Stückes eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Dabei scheint zunächst der hâne-Begriff (Persisch „Haus“ oder „Heim“) ein wichtiger Anknüpfungspunkt zu sein. Die hâne in osmanischen Kompositionen bezeichnet einen in sich geschlossenen musikalischen Abschnitt. In meiner Forschungsarbeit projiziere ich den eigentlichen Begriff dieses Terminus auf die Musik. Also ähnlich wie ein „Haus“ architektonischen und statischen Regeln folgen muss, um stabil stehen zu können, um nicht einzustürzen, so muss auch das „musikalische Haus“ bestimmten Prinzipien und Verhältnissen folgen, damit es als gelungen akzeptiert wird. Wenn man sich beispielsweise osmanische Vokalmusik vor Augen hält, so fallen viele Elemente auf, die bereits ein Vokalwerk zu einem bestimmten Grad vordefinieren. Dazu gehört beispielsweise der usûl, welches ein zyklisches Schlagmuster ist, das sich durch das ganze Stück durchzieht, und die Länge eines Stückes vorbestimmen kann. Auch die Liedtexte, die sich oft aus Versen der Diwan-Dichtung zusammensetzen, haben Komponisten oder Komponistinnen scheinbar nicht wahllos ausgesucht. So zeigten neuere Untersuchungen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Versmaß und den usûl-Schlagmustern gab, welches die Textlegung maßgeblich beeinflusste. Es steht zudem im Raum, dass die Ausführung des Makâm (oder Modus) im Verhältnis zum zyklischem Schlagmuster und Versmaß stand. Das „harmonische“ Verhältnis dieser Elemente zueinander scheint ein ausschlaggebendes Kriterium gewesen zu sein, ob das Publikum eine hâne als gelungen empfand oder nicht. Wenn beispielsweise der Interpret bei der Aufführung — wohlgemerkt aus dem Gedächtnis — die Silben an einer Stelle zu spät oder zu früh platzierte, so lief er oder sie Gefahr, die gesamte hâne zu verzerren, weil das harmonische Gefüge aus den oben erwähnten Elementen aus dem Gleichgewicht geriet. Meine Forschung möchte die Elemente bestimmen, die Teil des vordefinierten Regelwerkes einer Komposition waren.

Modernisierung und Musik im späten Osmanischen Reich

Ein zweites Forschungsfeld, für das ich mich sehr begeistere, ist Musik und Moderne im späten Osmanischen Reich, aber auch generell im globalen Kontext. Im Falle des Osmanischen Reiches finden die ersten Versuche, die traditionelle Musik an die westliche Musik anzugleichen, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts statt. Die kulturellen und musikalischen Errungenschaften des Westens haben die Neugestaltung der traditionellen osmanischen Musik maßgeblich beeinflusst. Besonders die Einführung des westlichen Fünflinien-Notensystems zusammen mit dem Notendruck gehörten zu den disruptiven Technologien, die die traditionelle Musiktradiierung unumkehrbar unterbrachen. Auch die Einführung westlicher Instrumente, insbesondere des Klaviers, dem Instrument par-excellence der Moderne im Osmanischen Reich, schien auf die urbane Musiklandschaft zunehmend Einfluss zu nehmen. Traditionelle osmanische Musik musste, wenn sie im Westen geachtet werden wollte, nun notiert, harmonisiert und auf westlichen Instrumenten aufgeführt werden. Ob dies überhaupt in Hinblick auf die Eigenheiten der osmanischen Musik möglich war, wurde zu einer Existenzfrage, die Intellektuelle und Musikschaffende um die Jahrhundertwende diskutierten. Auf beispielslose Art gewähren diese Diskussionen Einblicke in die Krisen auf dem Weg zur Moderne und in das Dilemma, das Eigene aufzugeben, wenn man modern sein wollte.

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