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Die japanischen Regionen als Innovationsmotor für Kultur und Gesellschaft – Feldforschung in der japanischen Provinz

Dr. Barbara Geilhorn

Die Auswirkungen der überalternden Bevölkerung Japans sind vor allem in den ländlichen Provinzen zu spüren: Junge Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie dort keine Zukunftschancen sehen. Kunst- und Theaterschaffende wie Naoki Sugawara haben ein modernes und interaktives Theaterkonzept entwickelt, das nicht nur zur Belebung ländlicher Regionen, sondern auch zu mehr Sichtbarkeit gesellschaftlicher Herausforderungen wie Pflegebedürftigkeit und Demenz führt. Barbara Geilhorn nimmt uns mit auf eine Reise in die japanische Provinz und zeigt die gesellschaftliche und politische Wirkungskraft des Theaters auf.

Ich stehe am Bahnhof von Wake, einer Kleinstadt in der Präfektur Okayama in Zentraljapan. Mit mir sind zwei weitere Passagiere ausgestiegen, sonst ist der Bahnhofsvorplatz menschenleer. Hier soll gleich Naoki Sugawaras neues Theaterstück beginnen? Ich schaue mich um und entdecke eine mit bunter Kreide bemalte Tafel, die den Weg zum Warteraum weist. Als ich hineingehe, ist er schon gut gefüllt. Das Publikum scheint sich zu kennen und unterhält sich angeregt. Dazwischen laufen einige Kinder umher.

Theater als Beitrag zu einer demenzfreundlichen Gesellschaft

Der Theatermacher Naoki Sugawara führt das Publikum auf den Bahnhofsvorplatz. Ein Kamerateam des Lokalfernsehens steht in der ersten Reihe. Das Stück beginnt. Ein Lokalzug fährt ein, aus dem ein junger Mann steigt. Vor dem Bahnhof trifft er einen älteren Herrn, der verzweifelt seine demente Frau sucht. Regelmäßig verlasse sie die Wohnung, laufe ziellos durch die Gegend und finde nicht mehr nach Hause zurück. Später wird klar, dass seine Frau längst verstorben und nun der Mann dement geworden ist. Die Zuschauer folgen den beiden Männern auf der Suche nach der alten Dame durch die Kleinstadt.

Der Tross stoppt hier und da, um in Geschäften nach ihr Ausschau zu halten. Die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit verschwimmen. Der ganze Stadtraum mitsamt seinen Geschäften, seinen Bewohnerinnen und Bewohnern sind Teil des „Wandertheaters“. Das Publikum beteiligt sich an der Suche und soll sich so in die Lage von Demenzkranken und Pflegenden hineinversetzen. Naoki Sugawara – selbst Schauspieler und ausgebildeter Altenpfleger – macht seit einigen Jahren Theater zu Alter und Demenz, um einen Beitrag zu einer demenzfreundlichen Gesellschaft leisten. Sein Hauptdarsteller ist der 95-jährige Tadao Okada, der erst 2014 durch einen Workshop Sugawara‘s zum Theater kam. Nun tritt Okada als Stellvertreter seiner Generation auf.


Neue Trends sind in den Regionen angekommen

Seit gut zehn Jahren lässt sich beobachten, dass zuvor eher stiefmütterlich behandelte Themen wie Pflegebedürftigkeit im Alter, Alzheimer und Demenz zunehmend auf internationalen Bühnen verhandelt werden. Naoki Sugawara ist Teil dieses Trends. Das ist auch in Japan nicht neu. Das 2006 von dem berühmten Theatermacher Yukio Ninagawa gegründete Saitama Gold Theater ist bekannt für seine Laienschauspielerinnen und -schauspieler im Alter ab 55 Jahren. In einigen Produktionen spricht es auch Probleme des hohen Alters an. Bei Sugawara stehen diese Themen jedoch im Mittelpunkt. Er greift damit Fragen auf, die nicht nur in Japan mit seiner besonders rasant alternden Bevölkerung immer dringender werden. Inzwischen werden seine Werke nicht nur in ganz Japan, sondern auch international aufgeführt. Gleichzeitig bedient sich Sugawara neuer Theaterformen, wenn er sein Publikum als Suchende durch eine Stadt schickt oder Laien als Darstellerinnen und Darsteller ihrer eigenen Lebenserfahrungen auftreten lässt. Für letzteres ist auch die deutsche Gruppe Rimini Protokoll bekannt.

Erfolgsmodell Toyooka?

Ähnliche Entwicklungen gibt es in vielen Regionen Japans, auch in Toyooka, einer Kleinstadt in der Nähe des Japanischen Meers. Das Gebiet entlang der Westküste wird oft als „Rückseite Japans“ (ura nihon) bezeichnet. Der Begriff beschreibt eine von neuen Entwicklungen abgehängte Region mit geringer Wirtschaftskraft. Wie andere Orte in der japanischen Peripherie kämpft Toyooka mit den Herausforderungen einer überalternden Gesellschaft, Bevölkerungsschwund und Strukturwandel. Das Problem: Junge Leute ziehen weg, weil sie keine Zukunftschancen sehen.

Wie kann Kultur zur Belebung des ländlichen Raums (chiiki saisei) und der Lösung der aktuellen Probleme beitragen? Gemeinsam mit dem berühmten Theatermacher Oriza Hirata hat Toyooka neue Ideen entwickelt. Ein internationales Theaterfestival und ganzjährige Kulturprogramme zielen darauf ab, die Kleinstadt mit Leben zu füllen und gerade für die junge Generation attraktiver zu werden.

Veranstaltungen finden in zuvor wenig genutzten Gebäuden statt wie dem ältesten Kabuki Theater der weiteren Umgebung, dem internationalen Kulturzentrum KIAC oder einer ehemaligen Brauerei, die eigens für Kulturevents umgebaut wurde. Angebote in Schulen, wie Kommunikationstrainings oder Workshops mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern, sollen junge Eltern vom Leben in der Region überzeugen.

Im April 2021 eröffnete die Fachhochschule für Kunst und Tourismus in Toyooka. Das Programm verbindet praktisches Training in Tanz und Theater mit der Ausbildung in Kulturmanagement und Tourismus. Das in Japan einzigartige Konzept soll Jugendlichen vor Ort eine Perspektive bieten und so die Abwanderung Studierender eindämmen. Toyooka setzt auf hochwertigen Kultur- und Ökotourismus, um Jobs und Einkommen für seine Bewohnerinnen und Bewohner zu schaffen. Entgegen verbreiteter Klischees sind neueste Trends in Kultur und Tourismus also längst in der japanischen Provinz angekommen.


Kulturschaffende zieht es in die Provinz

Der Boom regionaler Kunst- und Theaterfestivals zeigt, dass die Kulturszene Tokyos nicht mehr automatisch mit der des gesamten Landes gleichgesetzt wird. Eine wachsende Zahl bekannter japanischer Theater- und Kulturschaffender unterschiedlicher Generationen hat die Provinzen als Spielraum für neue Möglichkeiten entdeckt. Menschen vor Ort und ihren Anliegen eine Stimme zu geben steht ebenso auf dem Programm. In meinem Projekt untersuche ich, wie die vielfältigen Probleme und Chancen der japanischen Provinzen in regionalen Kultur- und Theaterproduktionen verhandelt werden. Es basiert auf aktuellen Konzepten von Theater als ein Ort, an dem Erfahrungen ausgetauscht und gesellschaftliche Debatten angestoßen werden. Entsprechend untersuche ich Theater nicht nur als Kunstform, sondern auch seine gesellschaftliche und politische Relevanz.

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