Japans ländliche Gemeinden in Zeiten des demografischen Wandels: Wie Orte des sozialen Austauschs zur Zukunft kleiner Dörfer beitragen

Dr. Sebastian Polak-Rottmann

Japans demografischer Wandel schreitet voran. Insbesondere auf dem Land sinken die Bevölkerungszahlen und nahezu jede zweite Person ist über 65 Jahre alt. Wie kann in solchen herausfordernden Zeiten ein reichhaltiges Sozialleben aufrechterhalten werden? Und wie hängt das mit Katastrophenprävention zusammen? Sebastian Polak-Rottmann vom DIJ Tokyo stellt einige Ideen dazu vor.

Die Bevölkerung Japans befindet sich seit den 2010er-Jahren im Rückgang. Dies bildet jedoch lediglich ein gesamtjapanisches Bild ab, denn in vielen ländlichen Regionen des Landes begann dieser Trend bereits in den 1960er-Jahren. Spätestens seit die zahlenmäßig besonders starke „Boomer-Generation“ in diesem Jahr das Alter von 75 Jahren erreicht, zeigen sich die Effekte der Mischung von Alterung und Abwanderung deutlich in den lokalen Gemeinschaften.

Zahlen helfen zunächst, den Rückgang und die Alterung im Vergleich zu vergangenen Jahren zu betrachten. Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Bevölkerung zwischen den Jahren 2015 und 2020 in den drei Gemeinden meines aktuellen Forschungsprojekts und den Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren. In nur fünf Jahren sank die Bevölkerung um etwa 10 % und fast 50 % der Einwohnerinnen und Einwohner sind über 65 Jahre alt.

Dies bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, wie etwa einen wachsenden Bedarf an Pflege, mangelnde Nachfolge bei kleinen (Familien-)betrieben, Schulschließungen sowie budgetäre Schieflagen. Sichtbar ist dieser zahlenmäßige Rückgang aber auch im Stadtbild. Ein anschauliches Beispiel ist der Dorfteil Itaibara in der Gemeinde Chizu (Präfektur Tottori; Abbildung 1). In den 1960er-Jahren wurde die Siedlung mit dem Rest der Kommune durch einen Tunnel verbunden. Innerhalb weniger Jahre verließ die gesamte Bevölkerung den Ort und das Gebiet wurde ein verlassenes Dorf. Selbst im Zentrum der kleinen Stadt Chizu finden sich zahlreiche leerstehende Häuser, deren ehemalige Besitzerinnen und Besitzer verstorben sind und deren nächste Generationen bereits in der Stadt leben.

Dörfer als dynamische Räume

In meiner Forschung betrachte ich Japans ländliche Gemeinden trotz – oder gerade aufgrund – ihrer zahlreichen Herausforderungen als dynamische Räume. Zwei Aspekte möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben. Einerseits entwickelten kleine Gemeinden in vielen Teilen des Landes innovative Ansätze, um mit den Problemlagen, die mit dem demographischen Wandel einhergehen, umzugehen. Andererseits gelten lokale Gemeinschaften auf dem Land aufgrund ihres reichhaltigen und engmaschigen Soziallebens als besonders widerstandsfähig gegenüber Katastrophen.

Das Land als Impulsgeber

Gerade im ländlichen Raum, wo die Entvölkerung und Überalterung deutlich größer ist als in den urbanen Zentren, finden Projekte statt, um die Gemeinden zukunftsfähig zu machen. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte 0/1-Gemeindegestaltungsinitiative der zuvor bereits erwähnten Gemeinde Chizu. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre entstand ein Netzwerk aus Akteur*innen von lokalen Freiwilligen, Professor*innen, Beamt*innen der lokalen Verwaltung sowie einer kanadischen Lehrerin, die gemeinsam Teile der Gemeinde umgestalteten. Im Zuge zahlreicher Aktivitäten wurden beispielsweise Blockhäuser gebaut, regelmäßige Buchbesprechungen abgehalten und sogenannte „Gemeindebezirksräte“ als Selbstverwaltungsorgane gegründet, die eine Reihe lokaler Initiativen starteten – darunter auch das weiter unten vorgestellte präventive Pflegesystem.

Das ländliche Sozialleben und dessen Beitrag zur Resilienz

Japans zahlreiche Naturkatastrophen (Erdbeben, Taifune, Starkregen, Vulkanausbrüche) stellen eine reale und wiederholte Bedrohung für lokale Gemeinschaften dar. Japanische und internationale Forschung beschäftigt sich daher damit, wie sich Siedlungen gegenüber dieser Bedrohungslage wappnen können und wie ein rasches Handeln im Ernstfall von statten gehen kann. Dabei scheinen im Alltag stattfindende gemeinschaftsbildende Aktivitäten der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Üblicherweise gibt es auf dem Land in Japan regelmäßige Treffen der Nachbarschaften, wo Belange des Dorfes besprochen werden, die Wege gemeinschaftlich gereinigt werden oder ein Volksfest abgehalten wird. Ein Ergebnis davon ist in der raschen Erfassung der Lokalbevölkerung nach einer Katastrophe durch die Nachbarschaften selbst erwiesen: Sowohl bei der Erdbebenkatastrophe in Kumamoto 2016 als auch beim Neujahrsbeben in Noto 2024 waren es Personen vor Ort, die den Behörden innerhalb weniger Stunden mitteilen konnten, wer in ihrer Nachbarschaft Hilfe braucht.

Doch die oben beschriebene Entvölkerung und Überalterung erschweren es zunehmend, bisherige Traditionen aufrecht zu erhalten: Feste werden abgesagt und die Distanzen zum nächsten bewohnten Haus wachsen. Einer der oben beschriebenen Bezirksgemeinderäte in der Gemeinde Chizu rief daher den Miniday ins Leben (Abbildung 2) − eine Tagespflege für alte Menschen, die dort ein- oder zweimal pro Woche ihren Alltag verbringen können. Freiwillige vor Ort kochen für die Gäste, es wird gemeinsam geturnt, gespielt und bei einem Tee oder Kaffee getratscht. Es geht dabei nicht nur darum, den gesundheitlichen Zustand der Mitmenschen im Auge zu behalten, sondern ebenso einen Ort des sozialen Austauschs zu schaffen, in Zeiten, in denen das Sozialleben immer weiter ausdünnt.

Japans ländliche Regionen sind von Überalterung und Abwanderung betroffen. Gleichzeitig sind sie jedoch dynamische Räume, in denen innovative Lösungen für Problemlagen entwickelt werden, denen sich Japan mittlerweile auch auf nationaler Ebene stellen muss. Initiativen auf Gemeindeebene oder sogar Gemeindebezirksebene sind anschauliche Beispiele dafür, wie ein reichhaltiges Sozialleben in herausfordernden Zeiten möglich sein kann und zu Strukturen der Resilienz beiträgt.

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