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Leben in der Schwebe – Die Bürgerkriegs- und Nachbürgerkriegsgeneration im Libanon

Dr. Sarah El-Bulbeisi

Die Vertreibungs- und Kriegserfahrungen der libanesischen (Nach-)Bürgerkriegsgenerationen haben sichtbare Spuren hinterlassen. So ist das Lebensgefühl der Menschen noch immer von Entfremdung und Ungewissheit geprägt. Sarah El-Bulbeisi untersucht, wie sich diese Erfahrungen auf die kollektive Identität und die Beziehungsgefüge der Generationen auswirken.

Der 15 Jahre andauernde libanesische Bürgerkrieg war unter anderem ein Erbe der europäischen Kolonialpolitik. Während des Kriegs haben sich verschiedene Konfessionen – Muslime, Christen und Drusen – mit der Unterstützung ausländischer Staaten erbittert bekämpft. Menschen wurden aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit oder ihrer politischen Überzeugung vertrieben und getötet. Die blutigsten Kämpfe fanden dabei unter Angehörigen derselben Konfession statt. Der Krieg hat eine zutiefst gespaltene Gesellschaft im Libanon hinterlassen. Gleichzeitig ist seine Geschichte weder aufgearbeitet noch wurden federführende Milizenführer zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Sie besetzen bedeutende politische Positionen und kontrollieren große Bevölkerungsteile durch ein feinmaschiges Patronage- und Klientelsystem. Konfessioneller Identität und der Angst vor dem „Anderen“ kommen dabei wichtige Rollen zu. Auf den Bürgerkrieg folgten verschiedene Kriege mit Israel, sodass Libanesinnen und Libanesen über multiple Vertreibungs- und Kriegserfahrungen und über ein Lebensgefühl stetiger Ungewissheit verfügen. Dies wurde seit der Finanzkrise und der Hafenexplosion von 2020 noch verstärkt.
 


Zwei Generationen im Fokus

Mein Projekt widmet sich den Erfahrungen und Geschichten der libanesischen Bürgerkriegs- und Nachbürgerkriegsgeneration. Beide Generationen teilen das Gefühl der Entfremdung von der Heimat und sind mit der Herausforderung konfrontiert, einer unaufgearbeiteten Vergangenheit Sinn zu verleihen. Bei der Nachkriegsgeneration kommt hinzu, dass ihr sowohl Gegenwart als auch Zukunft im Libanon verwehrt scheint. Die Nachkriegsgeneration wuchs mit dem Wunsch ihrer Eltern auf, sich nicht im Land zu verwirklichen (weder etwas aufzubauen noch etwas zu verändern), sondern es so schnell wie möglich zu verlassen. Das Leben beginne sozusagen erst mit der Emigration. Hinzu kommt, dass sich junge Libanesinnen und Libanesen selbst in ihren Familien oft nicht zu Hause fühlen, weil sie sich nicht mit den Werten ihrer Eltern identifizieren können, die sie als konfessionell orientiert und autoritär wahrnehmen, und weil sie unter deren Umgang – oder besser Nichtumgang – mit der Bürgerkriegsvergangenheit leiden. Für viele von ihnen waren die Proteste im Oktober 2019 die erstmalige Gelegenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Land zu entwickeln. Die Bürgerkriegsvergangenheit und ihr Erbe im öffentlichen Diskurs und in den Familien wurden auf einmal intensiver thematisiert. Der konfessionelle „Andere“ wurde durch den Staat als neuen „Anderen“ ersetzt, was die Möglichkeit eröffnete, soziale Unterschiede (zum konfessionellen „Anderen“) neu wahrzunehmen und zu bewerten. Dieses neue Narrativ wurde durch die Explosion im Hafen im August 2020 noch verstärkt.


Identitätsnormen und Lebensrealitäten im Konflikt

Ausgehend von den Wünschen, Ängsten, Konflikten und Selbstdeutungen von Libanesinnen und Libanesen erforscht mein Projekt die Spuren, die nicht nur die multiple Kriegs- und Vertreibungserfahrung, sondern ganz allgemein politische Gewalt sowie die dominante Rolle konfessioneller Identitäten in den Leben der libanesischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration und besonders in ihren Beziehungen hinterlassen hat. Wie prägen sie Eltern-Kind- und intime Beziehungen, aber auch die Beziehung zur Konfessionsgruppe, der man angehört? Wie beeinflussen sie Selbstbilder und die Wahrnehmung des „Anderen“, Zugänge zu Handlungsmacht und Selbstverwirklichung in der Welt? Wie verhalten sich verschiedene Formen kollektiver Identität, wie familiäre, geschlechtliche, konfessionelle und Klassenidentitäten, zueinander? Wie wirken konfessionelle Identitäten zum Beispiel auf die Beziehung zu Geschlechterrollen und -normen?

Mein Projekt untersucht nicht nur Konstruktionen kollektiver Identitäten, sondern auch Brüche mit diesen und Wege der Selbstverwirklichung. Ausgehend von Lebensgeschichten und Gesprächen untersuche ich, warum Identitätsnormen fortbestehen, obwohl sie von den Lebensrealitäten sichtbar untergraben werden, wie Identitätsnormen innerhalb der Familie tradiert werden, in welchen Kontexten ihre Subversion stattfindet und welche Rolle multiple Kriegserfahrung und die kontinuierliche Erfahrung politischer Gewalt dabei spielen.

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