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Matatus, Tuk Tuks und boda bodas – Informelle Verkehrsstrukturen in Kenias Hauptstadt

Dr. Robert Heinze

Ein urbaner Masterplan, unzureichender Personennahverkehr und (scheinbares) Verkehrschaos. Die Entwicklung des informellen Transports in Kenia ist unauflösbar verbunden mit dem Erbe des Kolonialismus. Robert Heinze untersucht die über Jahrzehnte entstandenen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem staatlichen ÖPNV und dem informellen Transportwesen und zeigt, welche Rolle die koloniale Stadtplanung dabei bis heute für die afrikanische Metropole spielt.

Bei einem ersten Besuch in der Innenstadt von Nairobi – ob als Reisende auf der Suche nach den bekannten Textilboutiquen oder als Forschende auf dem Weg zum zentral gelegenen Nationalarchiv – fällt ein erstaunlicher Bruch ins Auge: Das Überqueren der großen Moi Avenue katapultiert die Besuchenden aus dem ruhigen, fußgängerfreundlichen Central Business District in eine dem Klischee einer afrikanischen Stadt viel mehr entsprechende Ansammlung von Straßen und Seitenstraßen, in denen Busse, Taxis, Motorradtaxis, Tuk Tuks und Straßenverkäuferinnen und -verkäufer um den wenigen Platz auf der Straße wetteifern. Auf den ersten Blick scheint dieser Verkehrsknotenpunkt Nairobis ein unübersichtliches Chaos; nach einiger Zeit bemerkt man aber die Nummern in den Windschutzscheiben der Busse, die Tafeln mit Reihenfolgen und Nummernschildern und die Schlangen vor den einzelnen Haltestellen.

Das Chaos ist also nur ein scheinbares. Mit der Zeit stellt sich eine Orientierung ein und man erfährt, wo sich die (unmarkierten) Haltestellen für die unterschiedlichen Verkehrslinien befinden. Seit einigen Jahren hilft auch eine App bei der Orientierung, die Linie, Abfahrtszeit und Ort für gesuchte Zieladressen nennt. Tatsächlich befinden sich die Besucherinnen und Besucher auf der zentralen Endhaltestelle für das ausgedehnte Netzwerk des informellen Verkehrs in Nairobi. Dort sammeln sich alle möglichen Fahrzeuge, von den legendären Matatus, über die aus Mombasa importierten Tuk Tuks hin zu den mit den jungen Männern aus den ostafrikanischen Grenzregionen eingewanderten boda bodas, den alle Staus geschickt umschlängelnden Motorradtaxis. Die Geschichte dieser Endhaltestelle ist die Geschichte des informellen Verkehrs in Nairobi.

Ein urbaner Masterplan mit weitreichenden Konsequenzen

Oft wird der informelle Verkehr in Afrika mit der zunehmenden Privatisierung seit den Strukturanpassungsprogrammen der siebziger und achtziger Jahre in Verbindung gebracht. Im Zuge der Schuldenkrise und der neoliberalen Umstrukturierung wurden staatliche Unternehmen aufgelöst, der öffentliche Personennahverkehr desintegrierte. In die Lücke seien die „Informellen“ gestoßen, unlizenzierte Kleinstunternehmen, die den Passagiertransport unternahmen. Diese Erzählung passt sich in die üblichen Narrative von Afrikas postkolonialem Aufstieg und Niedergang ein. Wie aber die Geschichte der Endhaltestellen von Nairobi zeigt, ist die Entwicklung des informellen Transports wesentlich komplizierter und widersprüchlicher. Vor allem ist sie unauflösbar verbunden mit dem Erbe der kolonialen Stadtplanung.

Der Central Business District ist ein Resultat der letzten großen Umstrukturierung Nairobis im Jahr 1948. Der urbane Masterplan sah eine funktionalistische Stadt vor, die in Zonen für Wohnen, Arbeit und Freizeit unterteilt war. Die wichtigste Voraussetzung einer modernen funktionalistischen Stadtplanung war die Mobilität. Dem stand die koloniale Kontrolle afrikanischer Mobilität in Nairobi entgegen, die mittels Passgesetzen und Regelungen durchgesetzt wurde, aber auch den Plan selbst prägte. So richteten sich die Stadtplaner zwar explizit gegen rassistische Segregation, doch die Sozialwohnungen, die für die afrikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter die einzig erschwinglichen waren, wurden in einer eigenen Zone untergebracht. Die Straßen in dieser Zone waren ungeteert und zu eng für Busverkehr. Zwar existierte in Nairobi ein vergleichsweise früh eingerichtetes Busnetzwerk (mit eigens eingeführten Londoner Doppeldecker-Bussen der Marke Leyland) auch für Afrikanerinnen und Afrikaner, doch konnten die Busse nur am Rande des Viertels anhalten, und das Netzwerk bevorzugte europäisch bewohnte Stadtteile im Westen der Stadt. Zudem blieben die Fahrpreise zu hoch für afrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter, selbst in der zweiten Klasse im oberen Deck.

Fehlende Buslinien und die Genese des Matatu

Die private Firma, „Kenya Bus Services“ (KBS), die den ÖPNV in Nairobi betrieb, erreichte also nie eine ausreichende Abdeckung des Bedarfs. In die Lücke stießen bereits in den fünfziger Jahren Taxis, die zunehmend als Sammeltaxis fungierten und vor und nach den Bussen der KBS überzählige und wartende Passagiere auflasen.  Zwar war diese Form des Betriebs illegal und wurde von den KBS bekämpft, doch so lange Passagiere warteten, blieb dies eine erfolglose Anstrengung. Dazu kam eine Besonderheit der kenianischen Transportbehörde: Diese bevorzugte bei der Vergabe von Taxilizenzen Besitzerinnen und Besitzer, die nicht selbst fuhren. Durch die Struktur der kenianischen Gesellschaft bedeutete das, dass europäische und asiatische Angehörige der Mittelklasse, die Taxiunternehmen begründen wollten, eher in den Genuss einer Lizenz kamen als afrikanische Fahrerinnen und Fahrer, die sich mit einem Auto den eigenen Unterhalt sichern wollten. Im Laufe der nächsten Jahre etablierten sich schließlich die unlizenzierten Sammeltaxis. Mit dem Anwachsen der Stadt in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Nachfrage zunehmend größer und die Betreiber stiegen auf mit Bänken umgerüstete Pickups, Lastwagen und Minibusse um. Gleichzeitig protestierten sie gegen das Vorgehen der Polizei. Nach der Unabhängigkeit Kenias organisierten sich die Betreiberinnen und Betreiber der inzwischen als „Matatu“ bekannt gewordenen Fahrzeuge und setzten bei der Regierung eine Lockerung der Lizenzpflicht durch.

Die Vorherrschaft im urbanen Raum

Die Proteste der KBS, denen die Matatus zur unangenehmen Konkurrenz geworden waren, blieben erfolglos: Jomo Kenyatta, erster Staatspräsident Kenias, wusste die Gelegenheit zu nutzen, um ein populäres Transportmittel zu legalisieren und sich damit als Freund der „wanainchi“ zu präsentieren, der kleinen Leute, die die Matatus betrieben und nutzten. Es blieb aber den KBS vorbehalten, das Stadtzentrum, den erwähnten Central Business District (CBD), zu durchqueren, in dem alle privaten Fahrzeuge – und damit auch die Matatus – verboten waren. Diese sammelten sich also in den Straßenzügen nördlich der Government Road, der heutigen Moi Avenue. Schnell erkannte die Regierung unter Kenyatta, dass es Regulierungen brauchte, um diesen Wirtschaftszweigunter Kontrolle zu bringen. In der Folge entwickelte sich ein prekäres Verhältnis zwischen dem privaten Busanbieter KBS, dem kenianischen Staat und den Betreibern der Matatus. Der informelle Sektor wuchs mit der rapiden Urbanisierung stetig an, denn nur er konnte die Neuankömmlinge ökonomisch auffangen. Ein Lösungsansatz, diese chaotische, aus vielen Klein- und Kleinstunternehmen bestehende Branche zu kontrollieren, war über den urbanen Raum. Die Stadtverwaltung von Nairobi begann, Endhaltestellen für einzelne Routen zu designieren und diese an die Betreiber zu vermieten. Diese wiederum hatten nun ein Interesse daran, den Zugang zu ihren Strecken zu kontrollieren und Neuankömmlinge davon abzuhalten, ihnen ihre Passagiere auf dieselbe Weise abzujagen, wie sie es früher mit den KBS getan hatten. Auch wollten sie ihr Verhältnis zur Polizei verbessern, um die ständigen Buß- und Bestechungsgelder zu vermeiden.

Hinter dem scheinbaren Chaos der Straßenzüge nördlich des CBD verbirgt sich also die komplizierte Geschichte eines informellen Sektors, der über Jahre hinweg ein prekäres, aber doch erstaunlich langfristig wirksames Arrangement mit dem kenianischen Staat einging, von dem alle profitierten: Ein Matatu zu besitzen, ist für viele Mitglieder der kenianischen Mittelklasse eine Möglichkeit des zusätzlichen Verdiensts, für die städtischen Armen eine Verdienstmöglichkeit und für alle ein notwendiges Transportmittel. Zwar bringt die schwer zu regulierende Branche auch diverse Nachteile mit sich – Staus, Unfälle und die Prekarität der Arbeit sind nur die Wichtigsten – aber sie ist so zentral für die urbane Ökonomie und das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt, dass sie nicht wegzudenken ist. Dennoch: Auch die Nairobier begeben sich gerne in den CBD und den angrenzenden Uhuru Park, um dem Lärm, den Metallmassen und Abgasen für einen Moment zu entfliehen.

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