Thema Platzhalter

Soziale Ungleichheit – frühmittelalterliche Perspektiven auf eine aktuelle Herausforderung

Dr. Stephan Bruhn

Soziale Ungleichheiten sind eine der drängendsten Herausforderungen der Gegenwart. Zugleich berühren sie aber auch in vielfältiger Weise die Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit historischen Ungleichheiten kann den Blick für gegenwärtige Phänomene schärfen. Dies trifft auch auf eine Epoche zu, deren soziale Ordnung als überwunden gilt: das Mittelalter.

Kaum eine Zeit ist in der allgemeinen Wahrnehmung so sehr mit Ungleichheit verbunden wie das europäische Mittelalter. Zeitgenössische Ordnungsentwürfe wie die Einteilung der Gesellschaft in drei Stände scheinen diese Deutung unmittelbar zu bestätigen, wie ein Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert zeigt (vgl. Abb. 1): Während die Geistlichen und Adligen zur Rechten beziehungsweise zur Linken Jesu Christi stehen, plagen sich die Bauern am unteren Bildrand mit der Feldarbeit ab. Der thronende Christus verweist dabei auf die Legitimation der Einteilung: Gott hatte die Welt hierarchisch geordnet, und diese Hierarchie galt es aufrechtzuerhalten.


Vergangene Gesellschaften zwischen Alltag und Idealbild

Bei diesem Bild handelt es sich jedoch nicht um eine bloße Abbildung gesellschaftlicher Realitäten. Vielmehr entwirft es einen Idealzustand – so befremdlich dies auch anmuten mag. Der Künstler zeigte die mittelalterliche Gesellschaft nicht, wie sie gewesen ist, sondern wie sie nach der Auffassung seiner Auftraggeber sein sollte. Die Darstellung ist dabei von einer Einfachheit geprägt, die der Lebensrealität der Menschen sicher nicht entsprochen hat: Frauen lassen sich ebenso wenig finden wie Andersgläubige (etwa Jüdinnen und Juden). Auch sozialer Wandel, sei es in Form des Auf- oder Abstiegs einzelner Personen oder der Entstehung neuer Gruppen, kommt in diesem Weltbild nicht vor: Jeder ist genau an derjenigen Stelle verortet, die ihm gemäß seiner Geburt zufallen sollte.

Mehr als Beter, Krieger, Arbeiter

Die funktionale Dreiteilung nach Aufgaben bildet keineswegs das einzige Gesellschaftsmodell des Mittelalters. Fragen des sozialen Zusammenlebens und seiner idealtypischen Ordnung beschäftigten die Menschen damals nicht weniger als heute, wobei die Antworten je nach Hintergrund ganz unterschiedlich ausfallen konnten. Insbesondere Umbruchsphasen, in denen alte Modelle ihre Orientierungsfunktion verloren, erwiesen sich dabei als wichtiger Motor für solche Diskussionen. Sie bieten Einblicke, wie Menschen mit sozialem Wandel umgingen. Mein Projekt beschäftigt sich mit einem solchen Umbruchsmoment: der Herauslösung Westeuropas aus dem römischen Reich, die auch als „Transformation der römischen Welt“ bezeichnet wird. Sie erstreckt sich in etwa auf die Zeit zwischen 400 und 850 und markiert den Übergang von der Antike zum Mittelalter.

Kernfragen des Projekts

Im Fokus steht dabei die (Neu-)Aushandlung von sozialer Ungleichheit in dieser Transformationsphase: Was genau ist eigentlich das typisch „Mittelalterliche“ an der mittelalterlichen Gesellschaft? Wie unterscheidet sie sich etwa von der Gesellschaft des römischen Reichs? Wie wurden aus spätantiken Sklaven und Kolonen hörige Bauern? Welche Formen sozialer Ungleichheit gab es und wie wurden sie gerechtfertigt und durchgesetzt, aber auch angefochten und überwunden? Welche Rolle spielte der sich in dieser Zeit ebenfalls sozial ausdifferenzierende Klerus (Abb. 2)? Gibt es nur die eine Gesellschaft im Frühmittelalter oder nicht eher eine Vielzahl von Gesellschaften, die sich in ihren Funktionsweisen von Region zu Region unterschieden? Auf diese Fragen möchte mein Projekt Antworten geben, indem es sich exemplarisch mit den Reichsgründungen der Angelsachsen in England und der Franken in Mitteleuropa beschäftigt.

Was die Gegenwart für die Erforschung des Mittelalters leistet

Eine besondere Herausforderung bildet hierbei die Untersuchung von marginalisierten Gruppen, also Akteurinnen und Akteuren, die keine unmittelbaren Selbstzeugnisse hinterlassen haben und in Modellen wie der Dreiständeordnung häufig nicht vorkommen. Eine Gesellschaftsgeschichte kann aber keine reine Elitengeschichtsschreibung sein. Mein Projekt nutzt daher Ansätze aus dem Bereich der modernen Ungleichheitsforschung, um sich diesen vermeintlich „stummen“ Gruppen anzunähern. Konkret geht es dabei um einen Perspektivenwechsel auf elitäre Ordnungsvorstellungen: Gesellschaftliche Führungsansprüche werden nicht mehr allein in Bezug auf diejenigen ausgewertet, die sie erheben, sondern vor allem im Hinblick auf ihre potenziellen Folgen für die Betroffenen analysiert. Zugleich schärfen diese Ansätze den Blick für das Zusammenwirken von unterschiedlichen Diskriminierungsformen. Sie sensibilisieren zum Beispiel für den Umstand, dass Armut nicht gleich Armut ist, sondern diese konkrete Lebenssituation neben der verminderten ökonomischen Teilhabe auch von anderen Faktoren abhing, wie etwa der Religionszugehörigkeit oder dem Geschlecht. Das soziale Leben war zwar nicht unbedingt egalitärer, aber deutlich vielfältiger gestaltet, als gemeinhin angenommen wird.

Was das Mittelalter für die Gestaltung der Gegenwart bietet

Ebenso können zeitgenössische Diskussionen über soziale Ungleichheiten von einer Beleuchtung des Frühmittelalters profitieren. Zwar besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit mittelalterlicher Bauern von ihrem Grundherrn und gegenwärtigen Formen unfreier Arbeit. Gerade in Bezug auf die Mechanismen, die zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Hierarchien ausgebildet werden, bestehen allerdings Parallelen zwischen Frühmittelalter und Moderne. Hier eröffnet der Blick in die Vergangenheit neue Perspektiven für die Gegenwart. Denn nur wer um die Entstehung und Funktionsweise von sozialen Ungleichheiten weiß, kann zu deren Aufhebung beitragen.

Weitere Beiträge zum Thema „Ungleichheit und soziale Kohäsion“