Die sozialistische Integration Osteuropas wird im Nachhinein oft als gescheitert betrachtet – doch was bedeutete sie für Zeitgenoss*innen? Besonders zwischen der DDR und Polen gab es komplexe wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtungen. Der Zoll spielte dabei eine zentrale Rolle: Er kontrollierte, regulierte und beeinflusste den Austausch zwischen beiden Ländern maßgeblich. Andrew Tompkins untersucht am DHI Warschau die transnationale Zusammenarbeit der Zollbehörden und beleuchtet, wie sie die „sozialistische Integration“ mitgestalteten – und wo ihre Grenzen lagen.
Seit einigen Jahren untersuchen Historiker*innen Globalisierungsprozesse jenseits von Westeuropa und Nordamerika. Forschende wie James Mark, Steffi Marung und Kristin Roth-Ey beschäftigten sich dabei mit dem „sozialistischen Internationalismus“ und alternativen Formen der Globalisierung, insbesondere den Beziehungen zwischen Osteuropa und dem globalen Süden. Was aber ist mit der „sozialistischen Integration“ innerhalb Europas?
Für viele gilt der Begriff bestenfalls als hohle Floskel, denn die Integration der sozialistischen Planwirtschaften Osteuropas fand in bekanntlich engen Grenzen statt. Dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), gegründet 1949 als sozialistische Antwort auf den amerikanischen Marshall-Plan, fehlte es an ernsthaften Koordinationsmechanismen. Die Mitglieder des RGW strebten ohnehin eher autarke Wirtschaften an. Eine „Integration“ wie in Westeuropa kam also nicht zustande. Das heißt aber nicht, dass sozialistische Staaten in Osteuropa grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die damit einhergehende Vernetzung ihrer Bevölkerungen gänzlich ablehnten. Die Historikerin Dagmara Jajeśniak-Quast spricht von einer „versteckten Integration“, wo Expert*innen Informationen tauschten, Infrastrukturen verlinkten, und Wirtschaften verflechten ließen. Sozialistische Staaten förderten auch den gesellschaftlichen Austausch, behielten aber einen Steuerungs- und Kontrollanspruch. Auch wenn eine solche „Integration“ nicht immer gelungen ist, waren diese Versuche ernst gemeint und sind ernst zu nehmen, so der Historiker Michael Skalski.
Wechselhafte Durchlässigkeiten der deutsch-polnischen Grenze
Anfang der 1970er Jahre erarbeitete der RGW ein Komplexprogramm zur „Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration“. Schnell wurde die Phrase zu einer Losung im Zeichen der neuen Zeit nach dem Führungswechsel in mehreren kommunistischen Ländern. Insbesondere Erich Honecker in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Edward Gierek in der Volksrepublik Polen (VRP) suchten in einer verstärkten Kooperation die Möglichkeit, ihre Macht durch eine „Öffnung“ der gemeinsamen Grenze zum passfreien Verkehr zu zementieren. Unabhängig von den Absichten der Parteiführungen trugen ihre Entscheidungen dazu bei, dass sich Menschen begegneten und wirtschaftliche Verbindungen entstanden – Entwicklungen, die nie vollständig geplant, beobachtet oder kontrolliert werden konnten.
Als der grenzüberschreitende Verkehr in den 1970er Jahren bestehende Versorgungsengpässe verschlechterte, bevorzugte es die DDR anfangs, Zoll- statt Reiseeinschränkungen einzuführen. Erst mit der Entstehung der Solidarność-Bewegung in Polen führte die DDR 1980 „veränderte Modalitäten“ im Reiseverkehr ein, die den Grenzübertritt für die meisten DDR- und VRP-Bürger*innen deutlich erschwerten. Ein Jahr später verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht in Polen. Die Zeit der „offenen Grenze“ war damit endgültig vorbei. Nichtsdestotrotz strömten tausende polnische Arbeiter*innen weiterhin täglich und wöchentlich in die DDR, um in ostdeutschen Fabriken zu arbeiten. Auch Kinder- und Jugendaustausche fanden in den 1980er Jahren regelmäßig statt. Obwohl die „sozialistische Integration“ in den Hintergrund rückte, wollte weder Honecker noch Jaruzelski die Idee (bzw. den Anschein) gänzlich aufgeben.
An der Schaltstelle: Der Zoll
Eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der „sozialistischen Integration“ kam den Zöllner*innen zu, denn sie standen buchstäblich an der Schaltstelle zwischen der DDR und Polen. In der DDR-Forschung gibt es bislang nur eine Monografie zum Zollamt, deren Schwerpunkt aber bei der Stasi-Zusammenarbeit liegt. Zu anderen DDR-Behörden (Polizei, Passkontrolle) gibt es mehr Literatur, die sich allerdings fast ausschließlich mit der deutsch-deutschen Grenze befasst. Im polnischen Kontext hat Dariusz Stola dem Passbüro der Volksrepublik eine wegweisende Studie gewidmet, der Zoll bleibt aber auch in der polnischsprachigen Forschung unterbeleuchtet.
Dieses Projekt untersucht die Zollämter beider Länder mit Hinblick auf die „sozialistische Integration“. Ihr Verhältnis dazu war sicherlich zweischneidig. Auch wenn z.B. der NVA-Film „Guten Tag, Zollkontrolle der DDR“ den wichtigen Beitrag der Zöllner*innen zur sozialistischen Integration hoch lobte, wirkte der Zoll oft hemmend auf den Austausch zwischen der DDR und Polen. Jedoch gehörten Zöllner*innen zu den sichtbarsten Akteur*innen der Grenzkontrolle. Sie beeinflussten maßgeblich die Erfahrungen des Grenzübertritts aller Reisenden, ja sogar deren ersten persönlichen Eindrücke des fremden Landes.
Sozialistischer Internationalismus am Zollamt
Darüber hinaus erlebten Zöllner*innen eine eigene, ganz spezifische Form der transnationalen Zusammenarbeit. Zur effektiven Ausübung ihres Berufs benötigten sie Sprachkenntnisse des jeweils anderen Landes. An vielen Grenzübergangsstellen arbeiteten Zöllner*innen auf dem Territorium des Nachbarn. Sie informierten ihre ausländischen Amtskolleg*innen über aufgedeckte Schmuggel- und Zolldelikte, gleichzeitig beobachteten sie sich bzw. spionierten sich gegenseitig aus. Bei einer Reihe von gemeinsamen Grenzberatungen trafen Zollangehörige beider Länder zusammen. Dabei ging es nicht nur um Arbeit, sondern auch um Geselligkeit: zum Begleitprogramm ihres Treffens 1986 gehörte auch das Singen eines eigens geschriebenen „Lied[s] der Zöllner“.
Wie erlebten Zöllner*innen – und die Reisenden, die sie kontrollierten – die „sozialistische Integration“? Wie gestalteten Zollangehörige aus der DDR und Polen diese mit? Wie kontrollierten sie die Grenze im Sinne des eigenen Staates und wann agierten sie eher eigen-sinnig? Dieses Projekt zielt darauf, die transnationalen Praktiken der Zollangehörigen zu analysieren, um Erfahrungen, unbeabsichtigte Folgen und Widersprüche der „sozialistischen Integration“ zu beleuchten.
Headerbild: Deutsch-polnischer Grenzübergang bei Hohenwutzen/Osinów Dolny; © Andrew Tompkins
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