Die Bürokratisierung afrikanischer Gesellschaften

Transnationale Forschungsgruppe Senegal der Max Weber Stiftung

Die Max Weber Stiftung förderte von 2017 bis 2021 die transnationale Forschungsgruppe (TFG) „Die Bürokratisierung afrikanischer Gesellschaften“ in Dakar. Diese beruhte auf einer Kooperation zwischen dem Deutschen Historischen Institut Paris (DHIP) und dem Centre de recherches sur les politiques sociales (CREPOS) in Dakar, die bereits Ende 2015 ein erstes gemeinsames Forschungsprojekt lancierten. Von 2017 bis 2020 stand die TFG unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Susann Baller. 2021 übernahm Dr. Amadou Dramé die Koordination. Insgesamt erhielten neun Doktorierende und sieben Postdocs aus Senegal, Deutschland, Frankreich und anderen Ländern in Europa und Afrika Stipendien von 2 bis 4 Jahren. Die TFG wurde von einem Leitungsgremien, bestehend aus Vertretern und Vertreterinnen der TFG-Partnerinstitutionen in strategischen Fragen begleitet: Neben DHIP und CREPOS umfasste dies das Programm Point Sud (Bamako)/ Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Humboldt-Universität zu Berlin und das Centre de recherches internationales (CERI) de l’Institut d’études politiques in Paris (Sciences Po).

Aufbauend auf den Erfahrungen und Netzwerken der TFG ist das DHIP seit 2018 einer von vier deutschen Partnern des Merian Institute for Advanced Studies in Africa (MIASA) an der University of Ghana in Legon, Accra. MIASA wird vom BMBF gefördert. Im September 2020 begann die auf sechs Jahre angelegte Hauptphase. Das DHIP stellt von 2021 bis 2023 die MIASA Direktorin deutscher Seite mit Entsendung nach Accra. Außerdem organisiert das DHIP jährlichen einen Workshop zu „Female Academic Careers in Africa“ in Accra und Dakar.

Inhaltliches Profil

Das Forschungsprogramm untersuchte die Ausbreitung, Aneignung und Aushandlung bürokratischer Praktiken in kolonialen und postkolonialen Kontexten in Afrika und der afrikanischen Diaspora auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene. Bürokratie verweist auf die systematische Nutzung von Normen, Regeln, Standardisierungen und/oder Kategorisierungen, die darauf zielen, Herrschaft zu produzieren und zu legitimieren. Oftmals wird Bürokratie allein mit dem Staat und eigens ausgebildeten Verwaltungseliten assoziiert. Dabei sind Bürokratisierungsprozesse nahezu allgegenwärtig und keineswegs allein auf staatliche Strukturen beschränkt. Bürokratische Praktiken werden nicht nur »von oben«, also innerhalb staatlicher Institutionen und Verwaltungssystemen, ausgeführt, oktroyiert und/oder in Szene gesetzt, sondern auch »von unten« im Alltag nichtstaatlicher Akteure, wie zum Beispiel in Vereinen, NGOs, Kirchen, im Handel, in Kooperativen u.a., erfunden, herausgefordert und neuformuliert (Hibou 2012). In der TFG ging es um die »cité bureaucratique« (Bayart 2013) in all ihren politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Facetten. Zudem galt es, die Dimension der »Mitte« (»from the middle«) (Austen 2011) zu berücksichtigen, die Perspektive all jener, die meist als »Mediatoren« fungieren, als »Übersetzer« im wörtlichen und übertragenen Sinne.

Im Zentrum der TFG standen die bürokratischen Praktiken selbst (das Erstellen von Statistiken und Registern, das Verfassen von Berichten und Korrespondenzen u.a.), die grundlegenden Bestandteile bürokratischer Prozesse (Zahlen, Papier, Ordnungssysteme, Stempel u.a.) sowie die Orte und Räume bürokratischer Produktion (das Büro, das Bürogebäude wie auch die Wege bürokratischen Schriftverkehrs). Anlehnend an Mudimbes Konzept der »kolonialen Bibliothek« schaffen die Expertensysteme, auf denen Bürokratisierung basiert, eine »bürokratische Bibliothek« – und ihre Archive. Doch ähnlich wie bei der Auseinandersetzung mit der »kolonialen Bibliothek« verlangt auch die »bürokratische Bibliothek« nach einer komplexen Erforschung zwischen den Zeilen und und über das zu Papier gebrachte hinaus. Zum einen bildeten und bilden bürokratische Praktiken eine massive Intervention in afrikanische Gesellschaften, eine Intervention, die bis an die Ränder afrikanischer Staaten erfahrbar ist (Das und Poole 2004). Zum anderen ist diese »bürokratische Bibliothek« kein geschlossener Raum, sondern ein Feld unterschiedlicher Akteure. Lokale Akteure übersetzen und transformieren soziale Objekte und Ideen entsprechend ihrem Kontext. Bürokratische Praktiken boten und bieten dabei Risiken und Chancen zugleich, trafen aber auch nicht auf ein leeres Feld, sondern verschränkten sich mit Praktiken sozialer Organisation vorkolonialer Zeit.

Wissenschaftliche Aktivitäten

Die Stipendiatinnen und Stipendiaten der TFG kamen aus unterschiedlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie Geschichte, Ethnologie, Soziologie, Politik- und Religionswissenschaften. Die Projekte erforschten verschiedene Zeiträume (19.–21. Jahrhundert) und Regionen Afrikas (u.a. Senegal, Mali, Marokko, Tschad, Elfenbeinküste, DR Kongo, Benin). Die Stipendiatinnen und Stipendiaten hielten sich mindestens die Hälfte des Jahres in Dakar auf, dem Zentrum des Projekts. In Dakar fand regelmäßig von Januar bis Juni eine öffentliche Vortragsreihe statt, die »jeudis à Dakar«. Außerdem organisierte die TFG Seminare, Workshops und Tagungen. Von 2017 bis 2019 fanden drei Sommerschulen jeweils bei einer der Partnerinstitutionen statt (2017 in Paris, 2018 in Berlin, 2019 in Bamako). Die Forschungsergebnisse der TFG wurden auf dem Blog des Projektes sowie in einem von Dr. Susann Baller herausgegebenen Atelier der Zeitschrift Francia (48) veröffentlicht.

Das Förderformat der Transnationalen Forschungsgruppen der MWS wurde im Jahr 2012 beschlossen. Ziel des Formats ist es, grenzüberschreitende geisteswissenschaftliche Netzwerke zu schaffen, vor allem mit Regionen, in denen Deutschland bisher institutionell wenig präsent war. Darüber hinaus sollen die Transnationalen Forschungsgruppen zur Entwicklung von nachhaltigen Forschungsinfrastrukturen auch über das Ende des Projektzeitraums hinaus beitragen. Hierfür erhält ein Institut der Max Weber Stiftung eine finanzielle Unterstützung von 500.000 Euro pro Jahr für eine Dauer von bis zu fünf Jahren.

Kontakt:

Dr. Susann Baller
Wissenschaftliche Projektleiterin 2017–2020
sballer[at]dhi-paris.fr