Jonathan Lee: „Söhne Adams, Glieder desselben Körpers“

16.10.2025 | Vortrag | OI Istanbul | online und vor Ort

Identität und Überlebensstrategien nicht-muslimischer Gemeinschaften an den Grenzen der Imperien

Keynote Lecture im Rahmen der Konferenz Beyond Borders: Koloniale Begegnungen und Herausforderungen religiöser Minderheiten zwischen Afghanistan, Zentralasien und Iran (19. bis frühes 20. Jahrhundert)

16. Oktober, 17:30
Orient-Institut Istanbul

Vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhundert erlebten die indo-persischen und zentralasiatischen Grenzgebiete tiefgreifende Veränderungen, da sich das politische, kulturelle und – insbesondere in Afghanistan – auch das ethnische Gleichgewicht der Region neu ausrichtete.

Der Vortrag bietet einen Überblick über den historischen Kontext dieser Neuordnung und vertritt die These, dass die Probleme dieser Transformation nicht ausschließlich auf europäische imperialistische Politik zurückzuführen sind. Es wird untersucht, welche Herausforderungen und Überlebensstrategien für die sogenannten „nicht-muslimischen Gemeinschaften“ bestanden, mit besonderem Fokus auf die Armenier in Afghanistan.

Shah Mahmoud Hanifi weist darauf hin, dass der Handel im transasiatischen Netzwerk auf einer symbiotischen Beziehung zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Gemeinschaften beruhte, besonders mit Hindus aus Shikarpur (Hindkis), die als hamsaya („Nachbarn“, wörtlich „denselben Schatten teilend“) bekannt waren. Dies bot den Nichtmuslimen Schutz und ermöglichte es einer Reihe von ihnen, hohe Ämter zu bekleiden. Armenier und Georgier waren geschätztes militärisches Personal, beherbergten europäische Entdecker und fungierten als Übersetzer für britische Forscher. Einige Mitglieder der Muhammadzai-Elite heirateten sogar Frauen christlichen oder hinduistischen Glaubens.

Obgleich Nichtmuslime unter einer gewissen Spannung lebten und sozialen Einschränkungen unterworfen waren, blieben staatliche Verfolgungen in Afghanistan die Ausnahme. Gelegentliche Gewalttaten richteten sich überwiegend von nichtstaatlichen Akteuren gegen sie. Allerdings waren wohlhabende Hindkis, die die wichtigste Quelle für Kredite und Kapital für Handelsaktivitäten waren, gelegentlich während Finanzkrisen oder Kriegszeiten periodischen Abgaben ausgesetzt. Die Einmischung Großbritanniens in die Angelegenheiten Afghanistans erwies sich als zweischneidiges Schwert.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Beziehung der Armenier zur Church Missionary Society (CMS) geduldet. Einige Muhammadzais schickten ihre Kinder auf Missionsschulen, andere suchten im CMS-Krankenhaus in Peshawar medizinische Hilfe. Mindestens zwei zum Christentum konvertierte Muslime lebten in Kabul’s Bala Hisar mit den Armeniern zusammen, ohne dass Repressalien erfolgten. Dass dennoch die Armenier letztlich unter Emir ʿAbd ar-Rahmān Khan ins Exil gezwungen wurden, erfolgte nicht aus religiösen Motiven, sondern in erster Linie infolge von Hofintrigen und Vorwürfen administrativer Verfehlungen.

Nicht-muslime in Afghanistan lebten stets unter Spannung. Der Vortrag versucht allerdings, vorherrschende Diskurse zu hinterfragen, die Nichtmuslime als in einer Kultur dauerhafter Angst leben darstellen.

Zugleich wird der signifikante Beitrag dieser Gemeinschaften – insbesondere der armenisch-christlichen – zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Formationsgeschichte des modernen afghanischen Staates herausgearbeitet.

Jonathan L. Lee ist ein britisch stämmiger, freier Historiker und Feldforscher, der seit 1972 umfassende empirische Untersuchungen in Afghanistan, Zentralasien und Nordpakistan durchführt. Seine interdisziplinär ausgerichtete Forschung erstreckt sich über sozial-, dynastie- und politikgeschichtliche Fragestellungen, archäologische Erkundungen sowie die Analyse religiöser und ethnischer Minderheiten im historischen Wandel. Darüber hinaus befasst sich Lee mit Prozessen interkultureller Begegnung, der Geschichte des Nahen Ostens und kontextualisierten Bibelstudien, die er in einen breiten vergleichenden und historischen Rahmen einordnet.

Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Afghanistan: A History from 1260 to the Present Day (Reaktion Books, überarbeitete Ausgabe 2022) sowie The Ancient Supremacy: Bukhara, Afghanistan and the Battle for Balkh, 1731–1901 (Brill, 1996). Sein aktuelles Buchprojekt zur Geschichte der armenischen Gemeinde Afghanistans erscheint demnächst bei der Edinburgh University Press. Dr. Lee ist Fellow der Royal Asiatic Society und des British Institute of Persian Studies. Er lebt heute, nach teilweisem Rückzug aus dem aktiven Forschungsbetrieb, in Neuseeland, wo er seine wissenschaftliche Arbeit in Form von Forschung und Publikationstätigkeit fortsetzt.

Die Konferenz findet in Kooperation mit dem Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Orient-Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften statt.
Sie ist Teil des gemeinsamen Forschungsprojekts “The Jewish Triangle: Connections and Disruptions in Persianate Jewish Life during the 19th and 20th Centuries” und wird finanziell unterstützt vom FWF, der GAČR sowie der Botschaft der Tschechischen Republik in Ankara.

Die Veranstaltungssprache ist Englisch. Die Teilnahme ist kostenlos.
Für die Teilnahme vor Ort melden Sie sich bitte über das Formular unten an.
Für die Online-Teilnahme ist keine Anmeldung erforderlich.
Während der Veranstaltung werden Foto- und Videoaufnahmen gemacht. Mit Ihrer Teilnahme erklären Sie sich mit der Verwendung dieser Aufnahmen auf der Website, im Newsletter und in den Social-Media-Kanälen des OII einverstanden. Die Veranstaltung wird nicht aufgezeichnet.

VERANSTALTUNGSORT
Orient-Institut Istanbul
Galip Dede Cad. 65, Şahkulu Mah., TR – 34421 Istanbul
Tel: +90 212 293 60 67
oiist@oiist.org | www.oiist.org

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