Der European Research Council (ERC) zeichnet jährlich wegweisende Projekte in einem frühen Stadium der wissenschaftlichen Laufbahn mit einer Summe von bis zu 1,5 Millionen Euro über höchstens fünf Jahre mit den sogenannten Starting Grants aus. 408 von insgesamt 3106 Forscherinnen und Forscher aller Disziplinen sind im Rahmen der diesjährigen Ausschreibung berücksichtigt worden (https://erc.europa.eu/news/StG-recipients-2019). Aus der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institut im Ausland konnten zwei Mitarbeiter, Dr. Nadia von Maltzahn (OI Beirut) und Dr. Jan C. Jansen (DHI Washington), die begehrte Förderung einwerben. Sie hilft ihnen, eigene Teams aufzubauen und wegweisende Forschung über alle Disziplinen hinweg zu betreiben. Der ERC Starting Grant wurde in diesem Jahr mit einem Budget von insgesamt 621 Mio. Euro ausgestattet und ist Teil des Forschungs- und Innovationsprogramms der EU „Horizon 2020“.
Nadia von Maltzahn forscht seit 2013 am Orient-Institut Beirut, das von Prof. Dr. Birgit Schäbler geleitet wird. Ihr Projekt mit dem Kurztitel LAWHA (Gemälde auf Arabisch) untersucht die Biografien von Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken im und aus dem Libanon seit der Unabhängigkeit 1943. In Ermangelung einer institutionalisierten lokalen Kunstgeschichte werden Künstler oft klischeehaft dargestellt, gemäß der Agenda der jeweiligen Institution. Das Projekt möchte einen Perspektivwechsel für die Annäherung an die libanesische Kunstwelt vornehmen, indem es die Mehrdimensionalität der Laufbahnen der individuellen Künstlerinnen und Künstler in den Fokus nimmt. Es untersucht (1) die Kräfte, die die Entstehung der Kunst als professionelles Feld geformt haben, (2) wie die Auswirkungen des politischen, sozialen und ökonomischen Umfelds auf die Kunstwelt und ihre Protagonisten überdacht werden müssen, vor dem Hintergrund, dass der Libanon oft durch seine Erfahrung von Gewalt und Konflikt definiert wird, (3) wie Künstlerinnen und Künstler im Verhältnis zur Nation repräsentiert werden und (4) wie die Laufbahnen von Individuen das Feld geformt haben. Im Mittelpunkt stehen Künstlerinnen und Künstler im und aus dem Libanon, die Formen der Malerei, der Bildhauerei und Kunst der Neuen Medien nutzen. Die Besonderheit der libanesischen Geschichte nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1943 macht es besonders lohnenswert, die Machtverhältnisse zwischen Künstlerinnen und Künstlern und Institutionen im In- und Ausland zu untersuchen. Die Ziele des Projekts sind (1) die Entwicklung eines neuen Ansatzes, mit dem die künstlerische Produktion von einer kulturpolitischen Perspektive betrachtet wird und gleichzeitig die Laufbahnen der Künstlerinnen und Künstler und ihrer Werke ins Zentrum gesetzt werden, (2) die Auswirkungen von Krieg und Migration auf die künstlerische Produktion eines Landes neu zu bewerten, (3) eine kollaborative digitale Plattform und Datenbank (DDP) aufzubauen, um ein zentrales Open-Access-Repository und innovatives Instrument für die zukünftige Forschung und den Erhalt des libanesischen Kulturerbes zu schaffen und (4) die Wissenschaftskulturen von akademischer Forschung und Museen/Kunstinstitutionen zu verbinden. Das Projekt wird neue Methoden dafür identifizieren, wie man Kontext und künstlerische Produktion miteinander verbindet und Kunstgeschichte in postkolonialen Zusammenhängen überdenken kann.
Jan C. Jansen ist seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Washington, DC, das von Prof. Dr. Simone Lässig geleitet wird. Sein Projekt untersucht in vergleichender Perspektive die umfangreichen Flüchtlingsbewegungen der Revolutionen in Nord- und Südamerika, Frankreich und Haiti in den Jahrzehnten um 1800. Das atlantische Revolutionszeitalter gilt als die Geburtsstunde westlicher politischer Modernität und neuer Konzepte von Souveränität, Staatsbürgerschaft und politischer Partizipation. Es war jedoch auch eng verknüpft mit dem Auftreten politischer Flüchtlinge als einem Massenphänomen. Die großen revolutionären Umbrüche und die mit ihnen verbundenen gewaltsamen Konflikte setzten in dieser Zeit weit mehr als eine Viertelmillion Menschen in Bewegung. Auf Grundlage empirischer Fallstudien in der Karibik und auf dem amerikanischen Kontinent geht das Projekt der Frage nach, welche Rolle politische Flüchtlinge und ihre Mobilität in grundlegenden Transformationsprozessen des Revolutionszeitalters spielten. Es untersucht (1) wie sie den Wandel politischer Zugehörigkeiten und die Neuziehung der Grenze zwischen „Bürgern“ und „Fremden“ mitprägten; (2) wie sie sich in den sich wandelnden Praktiken öffentlicher und privater Fürsorge und frühen Formen von Humanitarismus niederschlugen; (3) wie sie in den sich verschiebenden und porösen Grenzen zwischen Freiheit und Sklaverei navigierten; und (4) wie Exil zu einem nationale und imperiale Grenzen überschreitenden politischen Handlungsfeld wurde. Während es mittlerweile Konsens ist, dass revolutionäre Ideen und Akteure innerhalb des Atlantiks der Zeit nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, sind diejenigen, die sich diesen Revolutionen entgegenstellten oder vor ihnen flohen, kaum in den Blick gekommen. Das Projekt, das nun mit dem ERC Starting Grant gefördert wird, beschreitet auf mehreren Ebenen neue Wege: Es legt, erstens, ein besonderes Augenmerk auf die Karibik als einer der weltweit wichtigsten Ziel- und Transitregionen für Flüchtlinge in dieser Zeit. Es zielt, zweitens, auf eine systematische Verknüpfung atlantischer Geschichte mit dem noch jungen Feld der Flüchtlingsgeschichte. Drittens stellt es die Erkenntnisse aus dem atlantischen Revolutionszusammenhang in den Kontext einer vergleichenden und globalen Geschichte unfreiwilliger Migration.
Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (MWS) fördert die außeruniversitäre Forschung mit Schwerpunkten auf den Gebieten der Geschichts-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in ausgewählten Ländern sowie das gegenseitige Verständnis zwischen Deutschland und diesen Ländern. Sie unterhält zurzeit zehn geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, zudem weitere Forschungsgruppen und Büros. Als rechtsfähige bundesunmittelbare Stiftung Öffentlichen Rechts wird sie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) institutionell gefördert.
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