Als Buchstaben die Welt ordneten – Arabische Buchstabensemiotik an der Schwelle zur Neuzeit

PD Dr. Berenike Metzler

In Zeiten von „copy“ und „paste“ wird dem einzelnen Wort oder gar dem Buchstaben wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Anders dagegen in den Gesellschaften früherer Jahrhunderte, als Informationen nicht ohne weiteres zugänglich waren, sondern – teils mühevoll – mündlich oder (hand)schriftlich übermittelt werden mussten. Besonders in der arabisch-islamischen Kulturgeschichte ist eine solche Wertschätzung der Buchstaben festzustellen. So wurde den einzelnen Buchstaben ein heiliger Charakter zugesprochen. Gleichzeitig blieben sie ein intellektuelles Rätsel, mit dem sich Gelehrte aus den Bereichen der Theologie, Sprachwissenschaft, Naturphilosophie und Kalligraphie fortwährend beschäftigten.

 

Der Koran und die „geheimnisvollen Buchstaben“

Im Koran ist an vielen Stellen eine große Verehrung des Wortes in mündlicher oder schriftlicher Form zu erkennen, heißt es doch in der ersten nach islamischer Tradition offenbarten Sure: „Trag vor im Namen deines Herrn, der schuf, den Menschen aus Anhaftendem schuf! Trag vor! Denn dein Herr ist’s, der hochgeehrte, der mit dem Schreibrohr lehrte, den Menschen, was er nicht wusste, lehrte.“ (Sure 96, 1-5, Übersetzung Hartmut Bobzin). Aus dieser Aufforderung wurden in den weiteren Jahrhunderten der islamischen Kulturgeschichte zwei große Künste geboren: die Rezitationskunst und die Schreibkunst. Doch auch unterhalb der Wortebene fordert der Koran zu einer näheren Beschäftigung mit dem Wort (Gottes) heraus. Zu Beginn von 29 der insgesamt 114 Suren befinden sich die sogenannten „geheimnisvollen Buchstaben“ (arab. „die Abgetrennten/al-muqaṭṭaʿāt“), deren Bedeutung bis heute nicht geklärt ist und Anlass für viele Spekulationen war: Handelt es sich hierbei um Abkürzungen von Worten oder Gottesnamen, um Hinweise auf ihre Besitzer, um Trennzeichen zwischen den verschiedenen Suren, um Zahlenwerte – oder soll durch diese Einzelbuchstaben lediglich die Besonderheit der Buchstaben an sich demonstriert werden?

 

Zwischen Klang, Symbolik und Form: Verschiedene Dimensionen der Buchstaben

Angesichts dieser herausgehobenen Rolle, die den Buchstaben in der islamischen Kulturgeschichte zugeschrieben wurde, will das Projekt untersuchen, inwieweit die verschiedenen Buchstabenfunktionen bereits in der arabischen Gelehrtenliteratur systematisch erfasst wurden und ob die Überlegungen dazu mit moderner buchstabenwissenschaftlicher Forschung vergleichbar sind. Um dabei keine Buchstabenfunktion zu übersehen, wurde ein Schema entwickelt, das phonetische, symbolische, systematische und ikonische Dimensionen der Buchstaben berücksichtigt. Als Beispiel sei hier der arabische Buchstabe ṣād/ص gennant, der in der Mitte des Schemas zu sehen ist. Dieser Buchstabe verschriftlicht den Laut eines emphatischen, also nachdrücklich gesprochenen „s“ (Phonetik). Im arabischen Alphabet nimmt er die 14. Stelle ein, im alphanumerischen System steht er für den Zahlenwert 60 oder 90 (Systematik). Er gehört ebenfalls zu den genannten geheimnisvollen Buchstaben und könnte hier einen der Gottesnamen meinen, z.B. aṣ-Ṣāniʿ, „der Schöpfer“ (Symbolik). Zudem gleicht er in seiner Gestalt (ص) an ein mandelförmiges Auge und hat aufgrund dieser Ähnlichkeit vielfach arabische Dichter dazu veranlasst, auf dieses Motiv anzuspielen (Ikonik).

Der Text, der zu dieser Untersuchung herangezogen wird, liegt in Manuskriptform vor und stammt aus der Feder des ägyptischen Gelehrten Abū Bakr aš-Šanawānī (gest. 1610). Dieser antwortet in seinem ca. 80seitigen Werk auf die sieben Fragen des berühmten mamlukischen Gelehrten Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 1505), der die Kenntnis der Buchstaben und ihrer Funktionen seinerzeit zum Prüfstein wahrer Gelehrsamkeit machte. Damit lässt er nochmals die intellektuelle Herausforderung, die die Beschäftigung mit den Buchstaben mit sich bringt, hervortreten:

„Wer jedoch außerstande ist, alif, bāʾ, tāʾ, ṯāʾ genau auseinanderzusetzen, der erweist sich als zu jung, um (diesen) Studien gewachsen zu sein. [...] Wer sie beantworten kann, der gehört zu den (gelehrten) Männern. Falls jedoch nicht, hat er keinen Vorteil gegenüber den Kindern.“

(Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn as-, At-Taḥadduṯ bi-niʿmati llāh, herausgegeben von Elizabeth Mary Sartain, Cambridge University Press 1975, S. 173:9f und S. 174:17f.; Übersetzung: Berenike Metzler)

Weitere Beiträge zum Thema "Information und Wissen"