Der Hippie-Trail prägte nicht nur eine Generation, sondern formte auch transregionale Gegenkulturen. Isabel Richter erforscht am Pacific Regional Office des DHI Washingtons in Berkeley, wie diese Reisen nach Indien und Nepal die Jugend- und Gegenkulturen in Westdeutschland nachhaltig beeinflussten und eine spirituelle Wende einläuteten. Ihre Forschung bietet einen Einblick in die kulturelle Verflechtungsgeschichte der Bundesrepublik während der turbulenten 60er Jahre.
Reisen gehörte für viele Jugendliche und junge Erwachsene in den langen 1960er Jahren zu einer entscheidenden Erfahrung auf der Suche nach einem sinnvollen und ganzheitlicheren Leben. Die Teenager und jungen Erwachsenen vor allem aus West- und Nordeuropa, den USA, Kanada und Japan waren insbesondere auf einer sich etablierenden Überlandroute nach Indien und Nepal unterwegs. Die in der Regel weißen, gebildeten und aus der Mittelschicht stammenden Reisenden starteten häufig in London, Amsterdam oder Ibiza und machten sich über die Türkei, den Iran, Afghanistan und Pakistan auf den Weg nach Indien und Nepal. Mit Beginn des Afghanistankrieges Ende 1979 wurde diese, auch als Hippie-Trail bezeichnete Route, dann unpassierbar.
Mit meiner Studie nehme ich Westdeutschland als lokal-globale Schnittfläche und damit die Verflechtungsgeschichte der Bundesrepublik in den globalen 1960er Jahren in den Blick. Die Auswertung von Quellen wie Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen, Reiseberichten, autobiographischen Texten, zeitgenössischen Artikeln, Reiseführern, Film, Musik und materieller Kultur zeigt, dass der Hippie-Trail fünf zentrale Felder der Jugend- und Gegenkulturen in den langen 1960ern nachhaltig geformt hat: Er prägte Praktiken des alternativen Reisens und förderte neue Musikformen, die ab Mitte der 1980er Jahre als Weltmusik Resonanz fanden; er stimulierte und konsolidierte den Drogenhandel in den 1970er Jahren, führte aber auch neue Formen der Ernährung und Vorstellungen von Gesundheit und Wohlbefinden ein. Nicht zuletzt sorgte der in den späten 1950er Jahren einsetzende Reisetrend nach Indien und Nepal für transnationale Verflechtungen der spirituellen Wende in den langen 1960er Jahren.
Die spirituelle Wende der 1960er Jahre
Die Analyse von Oral History Interviews mit Indienreisenden, Selbstzeugnissen von Konsumentinnen und Konsumenten bewusstseinsverändernder Substanzen, autobiografischen Texten, Reiseberichten, zeitgenössischen Magazinen, Zeitungsartikeln, Quellen zu international reisenden Lehrern aus Indien und Einführungen in Meditationsformen zeigt, dass Bewusstseinserweiterung und Meditation zu zentralen Praktiken gegenkultureller Subjektivitätsentwürfen gehörten. Sie haben bisher in ihrer transnationalen Dimension sowohl in Studien zu den globalen 1960er Jahren als auch in Untersuchungen zu europäischen Alternativmilieus nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Was als „Spiritualität” in den globalen 1960ern praktiziert wurde, galt vielen als Mittel zur persönlichen Befreiung und als Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung.
Spirituelle Praktiken im Laufe der Geschichte
Meditation und fernöstliche Weisheitslehren, Zen-Buddhismus und Vorstellungen aus dem Hinduismus sind keine Entdeckungen der 1960er Jahre, sondern haben in Europa und Nordamerika eine Geschichte, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreicht. Sie umfasst unterschiedliche Bereiche, die von der Sprachwissenschaft um 1800, dem europäischen Orientalismus, der Lebensreformbewegung, dem Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 bis hin zur Theosophie reichen. Inspiriert von östlichen Philosophien, Religionen und kontemplativen Praktiken erlebten insbesondere Experimente, die die Verbindung zwischen Körper-Geist erforschen sollten, seit den späten 1950er Jahren in den USA ein Revival und fanden in den 1960er Jahren auch in der Bundesrepublik viele Anhängerinnen und Anhänger.
Der Einfluss indigener Praktiken
Der in den 1970er Jahren einsetzende Meditationsboom ist ohne die Experimente mit bewusstseinsverändernden Substanzen seit den 1950er Jahren nicht denkbar. Was beispielsweise in den 1960er Jahren zeitgenössisch als „Bewusstseinserweiterung” praktiziert wurde, galt als emanzipatorische Praxis des kulturellen Umbruchs. Das Wissen und die Praktiken indigener Akteurinnen und Akteure, in deren religiösen Ritualen bewusstseinsverändernde Pflanzen eine wichtige Rolle spielten, prägten die Praktiken der Bewusstseinserweiterung in den langen 1960er Jahren. Asketen in Indien verwendeten Datura (Stechapfel) und Cannabis, um sich in Trancezustände zu bringen. Der im Amazonasgebiet verbreitete psychoaktive Ayahuasca-Sud, Psilocybin-Pilze und die Peyote Kulturen indigener nordamerikanischer Communities stießen nicht nur in den nordamerikanischen Gegenkulturen, sondern auch in Westdeutschland und anderen europäischen Ländern auf Resonanz.
Gesellschaftsveränderung durch Bewusstseinserweiterung?
Natürlich waren nicht alle Konsumentinnen und Konsumenten von psychoaktiven Substanzen auf eine Befreiung von autoritären Gesellschaftsnomen aus, und man kann sicherlich auch davon ausgehen, dass diese Substanzen nicht zwangsläufig das Bewusstsein aller Konsumentinnen und Konsumenten veränderten. Zudem herrschte bereits damals Unstimmigkeit darüber, wie fundamental notwendig eine Bewusstseinserweiterung sei und wie viel Potenzial tatsächlich in der individuellen Transformation für eine allgemeine Gesellschaftsveränderung stecke. In Studien zur Studentenbewegung und den alternativen Milieus der Bundesrepublik wird daher oft darauf hingewiesen, dass die Grenzen in den langen 1960er Jahren zwar fließend waren, Aktivistinnen und Aktivisten sich aber dennoch in zwei unterschiedliche Strömungen unterscheiden lassen: zum einen diejenigen, die sich mehr von einer kritisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus versprachen, und zum anderen diejenigen, die radikale Experimente und Lebensformen im Blick hatten und nach Wegen suchten, in der aus ihrer Sicht leeren und langweiligen Welt des Konsumkapitalismus ein sinnvolles Leben zu führen. Bewusstseinserweiterung in den langen 1960er Jahren war Teil der Suche nach einem ganzheitlichen Leben in Verbindung mit der Kritik an einer materialistisch determinierten Welt. Für die Ideale der alternativen Milieus der 1970er Jahre wie „Authentizität”, „Spontaneität”, „Kreativität” und „Ganzheitlichkeit” war es zentral, das als autonom und durch technische Vernunft geprägte Selbst neu und anders zu erfahren. Zudem fanden Meditationsformen wie Transzendentale Meditation, dynamische Meditation oder Zen Meditation seit den späten 1960er Jahren eine immer größere Anhängerschaft.
Gott als kosmische Kraft
Auf die Frage nach den ultimativen Zielen von Bewusstseinserweiterung und Meditation in den 1960er und 1970er Jahren erwähnten Praktizierende „inneren Frieden“, die „Klarheit des Geistes“, die Suche nach einem Leben in der Gegenwart, sich mit allen Geschöpfen verbunden zu fühlen, eine „vollständige Vereinigung mit Gott“, ein „bewussteres Leben“ oder auch „Gott ineinander zu sehen“. Diese Einsichten sprechen für eine spezifische Vorstellung von „Spritualität” in den langen 1960er Jahren: Sie versteht Gott als kosmische Kraft und nicht als persönliches Wesen. Praktizierende neigten dazu, eine individualistische Ethik zu vertreten, anstatt auf etablierte religiöse Autoritäten oder Texte zu setzen. Spiritualität konnte gruppenorientiert sein, war aber in erster Linie auf individuelle Erfahrungen ausgerichtet.
In meiner Forschung wird deutlich, dass der Hippie-Trail nicht nur eine Reisebewegung, sondern ein Katalysator für transregionale Gegenkulturen, insbesondere in Westdeutschland war. Durch die Erforschung dieser Reisen nach Indien und Nepal wird sichtbar, wie sie die Jugend- und Gegenkulturen nachhaltig beeinflussten und eine spirituelle Wende einläuteten. Die Auseinandersetzung mit Bewusstseinserweiterung, Meditation und fernöstlichen Weisheitslehren prägte eine Generation, die nach einem ganzheitlicheren Leben suchte. Die Suche nach gesellschaftlicher Veränderung und individueller Transformation stand im Mittelpunkt, und prägte entsprechend die langen 60er Jahre der Bundesrepublik.
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