Behinderungen gehören zur menschlichen Vielfalt und sind ein fester Bestandteil der Literatur. In Japan erfahren Behinderungen in letzter Zeit eine verstärkte Sichtbarkeit und spiegeln sich zunehmend in literarischen Werken wider. Carolin Fleischer-Heininger erforscht am DIJ Tokyo, wie die japanische Gegenwartsliteratur Behinderungen erzählt.
2023 wird mit Hanchibakku (deutsch: „Die Bucklige“) von ICHIKAWA Saô ein Roman über ein Leben mit körperlicher Behinderung mit dem 169. Akutagawa-Preis ausgezeichnet. Der Akutagawa-Preis ist der bedeutendste und prestigeträchtigste Preis, der in Japan für literarische Debüts im Bereich der sogenannten ‚hohen Literatur‘ verliehen wird. Auch in Japan werden Publikationsmöglichkeiten immer weniger durch Institutionen sowie Akteurinnen und Akteure des ‚literarischen Establishments‘ geebnet, und die digitalen Transformationen der vergangenen Jahrzehnte haben auf dem japanischen Buchmarkt zur Enthierarchisierung von Literatur beigetragen – nichtsdestotrotz ist die Auszeichnung mit diesem Preis nach wie vor äußerst bedeutsam. Sie erschließt Karrierewege und garantiert den ausgezeichneten Werken und den darin behandelten Themenfeldern eine umfassende mediale Sichtbarkeit.
Hanchibakku wurde in der Folge dieser Auszeichnung in Zeitungen und Fernsehsendungen verstärkt besprochen. ICHIKAWA selbst bekundet, dass sie ihren Roman bereits mit dem Ziel, diesen Preis zu erhalten, verfasst habe. Die Autorin bringt Erfahrungswissen aus ihrem Leben mit einer körperlichen Behinderung mit und ist im Feld der Disability Studies ausgebildet. Diese wissenschaftliche Querschnittsdisziplin hat sich dezidiert im Kontext der Behindertenrechtsbewegungen konstituiert und betrachtet Behinderungen als sozio-kulturelles Phänomen. Mit diesem Hintergrund setzt sich ICHIKAWA dafür ein, dass behinderte Figuren sowie Autorinnen und Autoren mit Behinderungen in der japanischen Literatur besser vertreten werden – eine Repräsentanz, die ihrer Ansicht nach bisher unzureichend ist.
Vorstellung von Behinderung in Hanchibakku
Den Text zeichnet aus, dass es ihm gelingt, eine individuelle Erfahrung über das reale Leben mit einer Behinderung in Literatur zu überführen – also in einen fiktionalisierten Handlungsablauf mit erdachtem Figureninventar und in einer künstlerischen Sprache. Damit vermittelt er Leserinnen und Lesern – dies bekunden sowohl Kommentare in/zu Medienberichten als auch Selbstzeugnisse der Autorin – einen authentischen Eindruck von einer Lebenswirklichkeit, die ihnen sonst in den meisten Fällen nicht zugänglich wäre. Dabei kann der Text zugleich eine anregende Perspektive für diejenigen bieten, die aufgrund einer Behinderung oder anderer Ursachen marginalisiert sind. Schließlich handelt es sich um ein literarisches Artefakt, das eine Behinderung nicht nur thematisiert, um darüber aufzuklären, oder diese als ein narratives Mittel verwendet, um eine Geschichte in einer bestimmten Form voranzubringen, sondern die Behinderung nutzt, um den Blick auf systemische gesellschaftliche Bedingungen zu richten. Es ist ein Text, der eine Behinderung nicht primär als ein bestmöglich zu korrigierendes oder kompensierendes individuelles Defizit auffasst, sondern darauf schaut, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeprägt wird. Er fragt damit schließlich auch, welche Vorstellungen über Menschen und das Menschsein Behinderungen zugrunde liegen, welche Vorstellungen von Behinderungen verbreitet sind und welche kulturellen Traditionen diese fundieren.
Barrierefreiheit in Japan
Japan hat in den zurückliegenden Jahrzehnten große Erfolge auf dem Gebiet der physischen Barrierefreiheit erzielt. Exemplarisch hierfür sind die taktilen Leitsysteme, die sogenannten tenji (tenji = Braille) burokku.
Diese sind in Japan in den frühen 1960 Jahren entwickelt worden und seit den 1990er Jahren als eine Mobilitätsmaßnahme für Sehbehinderte auch gesetzlich verankert. Mittlerweile sind sie weltweit stark verbreitet.
Ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das Vielfalt wertschätzt, gilt als vielversprechender Ansatz, um aktuelle Herausforderungen zu meistern. So geht es etwa darum, auf den demografischen Wandel oder einen sich auch in Japan manifestierenden Fachkräftemangel zu reagieren. Zugleich gibt es weiterhin offene Fragen, die sich nicht nur auf die physische Zugänglichkeit (man denke an kleinräumige Strukturen in urbanen Gebieten) oder die digitale Zugänglichkeit beschränken.
Immer noch bestehen Stigmatisierungen, Diskriminierungen und Aussonderungen fort. Diese betreffen etwa die Schul- und Arbeitswelt, aber auch das Wohnen. Somit bedeutet Behinderung erforschen immer auch soziale Marginalität erforschen. Damit gilt es, laufende Prozesse der Aushandlung in den Fokus zu rücken und eine gesellschaftliche Frage von den konkreten Erfahrungen betroffener Individuen her zu durchdenken.
Behinderungen als konkrete Erfahrungen einzelner Individuen und zugleich als ein gesellschaftlich gemachtes Phänomen verstehbar zu machen, sie zu deuten und umzudeuten – dies leisten literarische Werke. Denn die Literatur ist ein privilegierter Ort der Debatte über das Leben – als ein Mensch im Kontext mit Wesen, den menschlichen und anderen, der Natur und dem Kosmos.
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