Zu Beginn der Kolonisierung standen die französischen Atlantikkolonien vor einem großen Problem: Aufgrund des eklatanten „Frauenmangels“ ließen sich zu wenige Siedler dauerhaft in den neu eroberten Gebieten nieder. Eva Seemann untersucht am Deutschen Historischen Institut Paris, wie die französische Krone dieser Entwicklung mit Heiratsprogrammen entgegenwirken wollte. Wie wurden die Anwerbung und der Transport von Frauen und Mädchen organisiert? Und welche Motive steckten hinter einer solchen Bevölkerungspolitik?
Im Gegensatz zu den britischen Kolonien in Nordamerika kamen während der Frühphase der Kolonisierung nur vergleichsweise wenige Siedler nach Neufrankreich (Kanada), Französisch-Louisiana und auf die Antillen. Besonders der Mangel an französischen Frauen hielt Soldaten und Händler davon ab, sich in den Kolonien niederzulassen. Ab 1663 brachte die französische Krone daher in mehreren organisierten Initiativen hunderte Frauen und Mädchen über den Atlantik, um vor Ort zum Aufbau der französischen Kolonien beizutragen. Die Hintergründe und die Organisation dieser Heiratsprogramme sind der Gegenstand meines Habilitationsprojekts.
Die Ansiedlung von Frauen unter königlicher Protektion
In der Geschichtsschreibung gilt die europäische Expansion in die „Neue Welt“ nach wie vor als überwiegend männliches Projekt, das von Seefahrern, Entdeckern, Missionaren und Soldaten getragen wurde. Die Rolle von Frauen und Mädchen bei diesem Prozess wird in diesen Geschichten nur selten erzählt. Dabei war den kolonialen Eliten schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts bewusst, dass der Aufbau von Siedlungen in den neu eroberten Gebieten nicht ohne weibliche Unterstützung zu bewerkstelligen war. Ab den 1660er Jahren mehrten sich die Aufforderungen der vor Ort eingesetzten Intendanten und Gouverneure an die Regierung in Versailles, Frauen und Mädchen aus Frankreich zur Familiengründung in die Kolonien zu schicken: Zu wenige hatten die Überfahrt gemeinsam mit ihren Ehemännern, geschweige denn alleine, gewagt, weshalb die meisten Soldaten nach Ableistung ihrer Dienstzeit in den Kolonien keinen Grund sahen, zu bleiben. Unter der Leitung des damaligen Marineministers Colbert wurden zwischen 1663 und 1673 zunächst ca. 800 Frauen und Mädchen für Neufrankreich angeworben, die später so genannten „Filles du Roy“, für deren Kosten und Mitgift die französische Krone aufkam. Ab 1680 folgten mehrere Konvois in Richtung der Inseln Saint-Domingue und Martinique. Zwischen 1704 und 1728 schließlich wurde die Überfahrt mehrerer hundert „épouseuses“ in die neu gegründete Kolonie Louisiana (benannt nach König Ludwig XIV.) organisiert. Die Frauen und Mädchen waren im Durchschnitt zwischen 16 und 25 Jahre alt und kamen mehrheitlich aus den Waisenhäusern von Paris, La Rochelle und Rouen. Innerhalb weniger Monate nach ihrer Ankunft waren die meisten von ihnen verheiratet.
Frauen von zweifelhaftem Ruf?
Schon früh kam der Vorwurf auf, die Krone wolle sich nur der Überzahl der städtischen Prostituierten entledigen und würde reihenweise Frauen von zweifelhaftem Ruf deportieren. Neue Forschungen weisen jedoch darauf hin, dass die so rekrutierten „Bräute“ streng nach Herkunft und Tugend ausgewählt wurden. Insbesondere in Kanada gelten sie bis heute gar als „Mütter der Nation“. Tatsächlich musste die Mehrzahl der in die Kolonien geschickten Frauen ihren guten Leumund unter Beweis stellen – auch wenn diese Vorgabe insbesondere in den Konvois nach Louisiana nicht immer befolgt wurde. Zudem zeigt ein Vergleich zwischen überlieferten Heiratsverträgen in Frankreich und den Kolonien, dass Frauen in den Überseegebieten häufig über bemerkenswerte Handlungsspielräume verfügten, indem sie beispielsweise den Besitz ihrer Ehemänner erben konnten und vergleichsweise große Freiheiten bei der Partnerwahl hatten.
Eine neue Perspektive auf die Kolonialgeschichte
Bisherige Studien zum Thema haben neben diesem moralischen Aspekt vor allem biographische und genealogische Fragestellungen diskutiert. Im Rahmen meines Forschungsprojekts werden dagegen vorrangig die Vorbereitung, Planung und Umsetzung der Migrationsprogramme sowie das Zusammenspiel der beteiligten Akteurinnen und Akteure untersucht. Damit gerät nicht nur die Rolle von Frauen und Mädchen am Prozess der europäischen Expansion und Eroberung in den Blick. Auch weitere Personen und Personengruppen wie Verwaltungsbeamte, Kaufleute, Agenten, Nonnen und Schiffseigner, die an unterschiedlicher Stelle in die Rekrutierung eingebunden waren, treten auf diese Weise als Triebkräfte des Kolonisationsprozesses hervor. Das Projekt stärkt damit eine bisher wenig beachtete Perspektive auf die europäische Expansion und macht die ganz konkrete Beteiligung des „Mutterlandes“ am Aufbau der Kolonien sichtbar.
Siedlungsprogramme als Instrument der Bevölkerungspolitik
Dabei darf nicht vergessen werden, dass mit den Programmen eine klare bevölkerungspolitische und teils explizit rassistisch motivierte Agenda verbunden war, dienten diese Programme doch vor allem dazu, sexuelle Beziehungen und Heiraten mit indigenen Frauen zu unterbinden und stattdessen die Präsenz „weißer“ Siedler und Siedlerinnen zu stärken. König Ludwig XIV. stand hierin durchaus vor einem Dilemma. Einerseits schien der Aufbau der Kolonien nach christlich-französischem Modell nicht ohne staatlich geförderte Migration zu gelingen – eine anfängliche Assimilationspolitik, die auf die „Francisation“ der Indigenen zielte, wurde nach und nach aufgegeben. Anderseits wollte er Frankreich, das in dieser Zeit als unterbevölkert galt, nicht zugunsten der Kolonien „depeuplieren“. In der Rekrutierung potenzieller „Bräute“ spiegeln sich daher auch Aushandlungsprozesse darüber, wer in der Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts an welcher Stelle als erwünscht und nützlich galt. Eine Untersuchung dieser Aushandlungsprozesse erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf das demographische Denken der Zeit, sondern auch auf das Eingreifen obrigkeitlicher Autoritäten in die Bereiche von Ehe, Sexualität und Familie und damit Einblicke in frühe Beispiele staatlich gelenkter Migrations- und Bevölkerungspolitik.
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