Die Geschichte der Anatolien-Bagdadbahn, die das Osmanische Reich von Istanbul nach Bagdad durchquert, bedarf einer neuen Forschungsperspektive. Im Kontext aktueller postkolonialer Debatten betrachtet Bilge Karbi die Bahnlinie aus einem lokalen Blickwinkel. Wie sich das damals größte deutsche Investitionsprojekt auf das Leben der lokalen Bevölkerung und die Umwelt auswirkte, mit welchen Problemen die osmanische Bürokratie und das deutsche Unternehmen zu kämpfen hatten und wie diese Probleme gelöst wurden, sind die Hauptfragen der Studie.
Heutzutage sind Autos und Busse die bevorzugten Verkehrsmittel in der Türkei. 1950 wurde die Generaldirektion für Überlandstraßen in der Türkei gegründet und ab den 1970er Jahren gewannen Autobahnen immer stärker an Bedeutung. Demensprechend liegt die Eisenbahn heute, trotz der Entwicklungen im Eisenbahnbau in der Türkei in der Vergangenheit, technologisch und was die Länge des Schienennetzes angeht hinter den Überlandstraßen zurück.
Allerdings war die Eisenbahn, eine Leittechnologie im 19. Jahrhundert, im Osmanischen Reich, eine notwendige Infrastruktur. An den südlichen und westlichen Küsten des Reiches wurden mit ausländischen Investitionen Bahnlinien gebaut. In der republikanischen Zeit (ab 1923) wuchs das politische und wirtschaftliche Bewusstsein für den weiteren Ausbau des Schienennetzes. Der Eisenbahnbau ging bis zum Zweiten Weltkrieg zügig voran, und die aus der osmanischen Zeit stammenden privaten Eisenbahnlinien wurden aufgekauft und verstaatlicht. Vor 1923 befanden sich 70% des Schienennetzes im westlichen Teil des Landes; diese Verteilung änderte sich jedoch, als neue Strecken in den östlichen Regionen gebaut wurden.
Die Strecke Anatolien-Bagdad ist die längste noch erhaltene Bahnstrecke aus der osmanischen Zeit; sie durchquert das Land von Westen nach Osten. Das Projekt wurde nicht in einem Durchgang, sondern in mehreren Etappen realisiert. Der erste Vertrag wurde 1888 unterzeichnet, aber die Verlängerung der Strecke nach Bagdad wurde erst 1903 formell beschlossen. Ziel war es, die 1024 km lange anatolische Bahnlinie von Haydarpaşa nach Konya durch eine Bahn zu ergänzen, die von Konya nach Bagdad führte. Obwohl die Bagdadbahn erst nach dem Ersten Weltkrieg fertiggestellt wurde, beförderte sie bereits am Vorabend des Krieges jährlich etwa 600.000 Fahrgäste und 116.000 Tonnen Güter. Deutsche Investoren lieferten alle Materialien für die Bahn; und Bahnhöfe, Bahnhofsgebäude, Unterkünfte, Wassertanks und Brücken wurden von deutschen Firmen gebaut. Beim Bau arbeiteten ungelernte Arbeitskräfte aus dem Osmanischen Reich mit Facharbeitern und Ingenieuren aus Deutschland zusammen. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hatte die Türkei die Bahnhöfe und Brücken weiter instandgehalten, sodass sie teilweise auch heute noch in Betrieb sind.
Die Anatolien-Bagdadbahn ist so gut erforscht, jedoch wurde dieses Infrastrukturprojekt bisher nicht mit einer postkolonialen Perspektive untersucht. Ähnlich wie in China und Afrika wollte Deutschland im Osmanischen Reich mit einer transregionalen Schienenverbindung kolonialen Einfluss nehmen. Um die Infrastruktur in diesen Gebieten zu verbessern, führten beispielsweise deutsche Experten aus verschiedenen Bereichen, auch im Osmanischen Reich, Inspektionsbesuche durch.
In der Geschichtsschreibung mit globaler Perspektive gewinnen aktuell Infrastrukturinvestitionen wie die Anatolien-Bagdadbahn immer mehr an Bedeutung. Demensprechend bietet mein Forschungsprojekt ein Fallbeispiel, bei dem das Osmanisches Reich unter dieser globalhistorischen Perspektive betrachtet wird. Die Untersuchung von Infrastrukturen wie Eisenbahnen hilft zu verstehen, wie der Kolonialismus im Osmanischen Reich konkret funktionierte.
Meine Studie klammert dabei die diplomatischen Beziehungen zwischen Istanbul und Berlin aus. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, welche Auswirkungen die Bahn auf die Landschaft und die Bevölkerung entlang der Strecke hatte und welche Maßnahmen die osmanische Bürokratie daraufhin ergriff. Die Konzessionsverträge zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich stellten mit dem Fortschreiten des Bahnbaus eine Herausforderung dar. Regelungen zum Schutz oder zum Status von Waldgebieten, Militärzonen, Privatgrundstücken und antiken Städten, durch die die Bahnstrecke ging, führten zu einer Vielzahl von Entscheidungen und Regelungen. Diese berührten konkret die Interessen dreier Parteien: der Anatolischen Eisenbahngesellschaft, der lokalen Bevölkerung und der osmanischen Regierung. Die Erforschung dieser Zusammenhänge wird nicht nur die Bedeutung der Anatolien-Bagdadbahn in der globalen Geschichtsschreibung aufwerten, sondern auch neue Perspektiven auf die Geschichte der osmanischen Provinzen eröffnen.
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