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„Die andern fragen so oft, wann schreibst du nach Amerika“ – Migrant Connections: Eine digitale Forschungsinfrastruktur zur deutsch-amerikanischen Migrationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Dr. des. Jana Dunz-Keck
Daniel Burckhardt
Dr. Atiba Pertilla

„Wenn ich dir so oft geschrieben hätte als ich an dich denke, so hättest du wohl tausend Briefe. Die andern fragen so oft, wann schreibst du nach Amerika“ – Brief von Anna Maria Steinhorst, geschrieben in Ascheberg, Nordrhein-Westfalen, am 19. März 1875 an ihren Bruder Bernhard Busam, der 1855 in die Vereinigten Staaten auswanderte.

Seit den 1840er Jahren, die den Beginn der deutschen Massenmigration in die USA einläuteten, machten sich mehr als 4,5 Millionen Menschen auf die Reise über den Atlantik. Ein zunehmend entwickeltes und verlässliches Postsystem, technische Innovationen in der Druckpresse und ansteigende Alphabetisierungsraten erlaubten es den Menschen auf beiden Seiten des Ozeans in relativ regelmäßigem Austausch zu bleiben. Ein vielfältiges Kommunikationsnetzwerk aus Briefen, Zeitungsartikeln und Reiseführern ermöglichte es, kontinuierlich Informationen über die neue Welt und die alte Heimat zu erhalten.

Menschen, die ihre Umgebung verließen, blieben auf vielfältige, mitunter emotionale oder konflikthafte Weise mit Jenen verbunden, die in eben dieser Umgebung weiterlebten. Für Untersuchungen zu Auswanderern aus den deutschen Staaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind Briefe seit langem als wertvolle Quelle anerkannt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit aber standen die Migrantinnen und Migranten, die aus Amerika über Neues und Aufregendes berichteten und so den Daheimgebliebenen die neue Welt näherbrachten. Diejenigen, die solche Berichte scheinbar nur konsumierten, blieben bisher im Schatten der Forschung. Was antworteten sie und wie haben sie sich zu mobilen Lebenswelten in Beziehung gesetzt?

Erst jetzt, in einer Zeit, in der sich mobile Weltbürgerinnen und Weltbürger sowie „immobile Provinzlerinnen und Provinzler“ vermeintlich sprach- und verständnislos gegenüberstehen – und zwar besonders dort, wo es um Migration und Diversität geht –, beanspruchen die Daheimgebliebenen zunehmendes Interesse. Und wer sie, wie das DHI Washington, ins Licht der Forschung rückt und ihnen eine historische Stimme geben will, für den sind transatlantische Korrespondenzen eine Fundgrube besonderer Art. Denn diese Briefe geben Aufschluss darüber, wie auch die Daheimgebliebenen „Migration“ verhandelt haben. Dabei wurden nicht selten Frauen – wie Anna Maria Steinhorst – und Kinder Übersetzer von Kultur und Wissen: ein weiterer Aspekt, dem die Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Das am DHI Washington angelegte Institutsprojekt „Migrant Connections“ sammelt, digitalisiert und untersucht Briefe von bisher unbekannten historischen Akteurinnen und Akteuren und ergänzt sie mit Tagebüchern, Gedichten und Nachrichtenartikeln. Diese und ähnliche Quellen ermöglichen relationale Forschungen zu Fragen von Im/Mobilität und Dis/Konnektivität, die sich auf die Lebenswelten ganz unterschiedlicher, nicht selten unterer sozialer Schichten beziehen. Sie geben einen breiten Einblick, wie Auswandernde und Daheimgebliebene, Frauen und Männer, Jung und Alt, Juden und Christen oder andere religiöse Gruppen migrationsbedingte soziale, politische oder wirtschaftliche Herausforderungen erlebt und bewältigt haben oder an ihnen gescheitert sind.


Die neue digitale Forschungsinfrastruktur baut auf den drei folgenden Projekten auf:

  • „Mobile Lifeworlds in German-American Letters“, ein digitales Crowdsourcing- und Citizen-Science-Projekt, das Briefe aus dem deutschsprachigen Raum an Einwandererinnen und Einwanderer in den USA sammelt. Zusammen mit der Deutschen Auswandererbriefsammlung (DABS) und der Forschungsbibliothek Gotha, der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) und der Universität Trier bildet diese Sammlung eine der tragenden Säulen für ein digitales Korpus transatlantischer Korrespondenz über die gesamte Dauer des neunzehnten Jahrhunderts. Die Sammlung (Transkription, Übersetzung und Metadaten) wird zusammen mit Citizen Scholars durch Online-Publikationsplattformen und Deep-Learning-Methoden zur automatischen Handschriftenerkennung erstellt.

  • „Traveling Texts in German-American Newspapers“ ist eines der Ergebnisse des Forschungsprojektes „Text Mining America’s German-Language Newspapers, 1830-1914: Processing Ger(wo)manness“ (Jana Keck). Anhand digitalisierter deutschsprachiger Zeitungen von Chronicling America (Library of Congress) untersucht das Projekt, welche Texte sensationeller, politischer, oder literarischer Natur von Herausgeberinnen und Herausgebern über Staaten und Jahrzehnte hinweg ausgesucht, verändert, und nachgedruckt wurden. Das Projekt erstellt ein Korpus populärer Zeitungsliteratur, die unterschiedliche Gattungen vereint: von nationalistischen Gedichten bis hin zu Werbetexten zur Heilung weiblicher Schwäche.

  • „Writing Across Borders: Diaries and Journals as Narratives of Migration“ ist eines der Pilotprojekte von COESO (Connecting Research and Society). COESO wird die Zusammenarbeit zwischen der europäischen Gesellschaft der Sozial- und Geisteswissenschaften und den Bürgerwissenschaften verstärken. Während der Schwerpunkt von „Mobile Lifeworlds in German-American Letters“ auf dem Informationsaustausch über den Atlantik liegt, konzentriert sich die Initiative „Writing Across Borders“ auf Tagebücher. Diese Quellen zeigen, wie Migrantinnen und Migranten ihren Transit reflektierten und ihre Perspektiven während ihrer Reise von einem Kontinent zum anderen veränderten. 

„Migrant Connections“ ist eine interaktive und explorative Plattform aus der Forschung und für die Forschung. Sie eröffnet aber auch einen digitalen Raum für Pädagoginnen und Pädagogen sowie für Citizen Scholars und für Akteure aus der Migrationsforschung, Verwaltung und Politik. Das Ziel ist es, transatlantische Dialoge zwischen Menschen und Gruppen zu inspirieren, die sich mit Wissen und Migration befassen und die normalerweise nicht miteinander interagieren. Die Digitalisierung und Veröffentlichung dieser Quellen zur Erforschung transatlantischer Informationsnetzwerke hat das große Potenzial vor allem unbeachtete Gruppen in der Geschichtsforschung eine Stimme zu geben.


Team „Migrant Connections“

Daniel Burckhardt ist seit April 2018 technischer Entwickler am DHI Washington. Er arbeitet an den Quellensammlungen „German History in Documents and Images und German History Intersections“ und weiteren Initiativen im Bereich der digitalen Geschichte am Institut. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich von Digitalen Editionen und Sammlungen.

Jana Keck ist seit September 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHI Washington im Bereich Digital History und koordiniert das Institutsprojekt „Migrant Connections“. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit (Deutsch-)Amerikanischer Literatur und Kultur, dem Zeitungswesen im 19. Jahrhundert sowie den Digital Humanities.

Simone Lässig ist Historikerin und Direktorin des DHI Washington. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Wissens, jüdische Geschichte, Religion und Religiosität sowie Familie und Verwandtschaft in der Moderne. Sie beschäftigt sich aus historischen Perspektiven mit Menschen im globalen Transit und mit digitaler Geschichtswissenschaft.

Atiba Pertilla ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am DHI Washington und Projektleiter von „Mobile Lifeworlds in German-American Letters“. Er promovierte 2016 in Geschichte an der New York University und arbeitet derzeit am Projekt „Land of Dollars“, das den Umgang von Einwanderern mit Geld in der Zeit von 1870 bis 1930 untersucht.

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