Extended Reality in Japan – Zukunftsvisionen zwischen Cyberspace und Realität

Dr. Nicole Marion Mueller

Virtual-Reality-Headsets, Pokémon auf dem Smartphone und virtuelle Popstars auf der Bühne: Gerade in Japan verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Cyberwelt zunehmend. Technologien der Extended Reality prägen hier nicht nur Unterhaltung und Arbeitswelt, sondern sind Teil weitreichender Zukunftsvisionen. Doch welche gesellschaftlichen Vorstellungen stecken dahinter? Und wie beeinflussen Kultur und Tradition diese Entwicklungen? Nicole Marion Mueller erforscht am DIJ Tokyo, wie Extended Reality als Eckpfeiler einer japanischen „Super Smart Society“ aufgefasst wird – und was das für die Zukunft bedeutet.


Technologien der Extended Reality

Extended Reality ist ein Überbegriff für immersive digitale Technologien, die die Nutzenden vollständig in digitale Welten eintauchen lassen, indem sie reale und virtuelle Inhalte zu jeweils unterschiedlichen Anteilen miteinander verschmelzen und so eine intensive, realitätsnahe Erfahrung schaffen. Die bekannteste dieser Technologien ist die virtuelle Realität, in der digitale Inhalte die Wahrnehmung durch spezielle Headsets (fast) vollständig überlagern. Auch das Metaverse spielt sich vorwiegend in der virtuellen Realität ab. Dagegen sind Augmented Reality oder Mixed Reality „durchlässiger“ und vermischen die Realität nur zum Teil mit virtuellen Cyberwelten. Auch dies ist über Headsets sowie über Augmented Reality-Brillen oder Smartphone Apps möglich. Ein Beispiel ist das 2016 erschienene Spiel ‚Pokémon Go‘, das auf dem Smartphone-Bildschirm Pokémon sichtbar werden lässt, die sich scheinbar in der näheren Umgebung tummeln. Die cyberphysische Illusion, man stünde wirklich neben der gelben Elektromaus Pikachu, wird dadurch verstärkt, dass man durch Bildschirmgesten direkt mit den Pokémon interagieren kann. Während ‚Pokémon Go‘ aber auf einer einfachen optischen Überlagerung basiert, sind in Japan zum Beispiel auch virtuelle Popstars, deren Konzertauftritte mit aufwändiger Projektortechnik realisiert werden (sodass es hier für Vermischung von Realität und digitalen Inhalten keiner Brillen oder Headsets bedarf), enorm populär.

Japans Metaverse-Initiativen

Die Vorliebe des japanischen Massenpublikums für virtuell mit der Realität überlagerte Animationsfiguren geht auf Anime, Manga und Gaming als feste Bestandteile der Popkultur zurück. Auch sonst versteht sich Japan als Vorreiternation im Bereich Extended Reality und Metaverse: Schon seit den 1980er-Jahren ist das japanische Interesse am ‚Ubiquitous Computing‘, das digitale Inhalte überall abrufbar macht – so, wie wir heute mit Smartphones überall auf das Internet zugreifen können – stark ausgeprägt. Gegenwärtig ist von einem sich auf diese Tradition stützenden „neuen Zeitalter“ der Extended Realität die Rede: Große japanische Telekommunikationsunternehmen wie NTT haben in den letzten Jahren eigene Extended Reality-Tochterunternehmen gegründet; auch der weltweit erste Metaverse-Thinktank ist im März 2022 in Japan entstanden. Den Boden hierfür bereitete das 2016 von Japans Regierung vorgestellte Konzept einer ‚Society 5.0‘ oder ‚Super Smart Society‘, in der Cyberwelt und Realität nahtlos ineinander übergehen sollen. Entsprechend kommen Extended Reality-Technologien in Japan schon jetzt in den Bereichen Tourismus und Unterhaltung, aber auch in der Arbeitswelt zum Einsatz.

Science Fiction als Triebkraft

Wie eng dabei Zukunftsphantasien und technologische Innovation zusammenhängen, zeigen die großen japanischen Technologieunternehmen Sony und NTT, die für ihre Prototypenentwicklung mit Science Fiction-Autorinnen und Autoren zusammenarbeiten. Dabei geht es nicht um Werbung für ein konkretes Produkt, sondern darum, eine zukünftige japanische Gesellschaft zu skizzieren, die durch ganz neue technologische Möglichkeiten geprägt ist – mit denen das Unternehmen in Verbindung gebracht werden will. So entstehen Kurzgeschichten und Anime-Filme, die als Werbematerialen online zugänglich sind und vorrangig utopische Zukunftswelten entwerfen; Risiken kommen kaum zur Sprache. In einer Kooperation mit Sony beschreibt der Science Fiction-Autor Fujii Taiyō Extended Reality dementsprechend als Teil einer idealen Arbeitswelt mit bedingungslosem Grundeinkommen, in der digitale Klone den Großteil des Arbeitspensums erledigen. So gelingt es Sony durch die Kooperation, eigene Technologien in die Nähe von erstrebenswerten gesellschaftlichen Entwicklungen zu rücken.

Wie erfassen wir Zukunftsvisionen?

Vergleichbare Zukunftsvisionen werden nicht nur in Science Fiction, sondern beispielweise auch in Online-Diskussionen verhandelt. Um diesen unterschiedlichen Debatten nachzuspüren, kombiniere ich verschiedene Forschungsmethoden: Während ich Science Fiction-Romane literaturwissenschaftlich analysiere, werte ich japanische Online-Pressemitteilungen und Online-Nachrichten zu Extended Reality mit einem Themenmodell, also einer speziellen Software aus, die zentrale Diskussionsthemen und ihre Zusammenhänge ermittelt. Das ist notwendig, weil es hier um mehrere zehntausende Texte geht, die man sonst nicht überblicken könnte. Zusätzlich interviewe ich Expertinnen und Experten aus japanischen Technologieunternehmen, die ihre Zukunftsvorstellungen im Hinblick auf die Extended Reality im persönlichen Gespräch teilen.

So versuche ich herauszufinden, welche Zukunftsvisionen die Einstellung der japanischen Öffentlichkeit zur Extended Realität in unterschiedlichen Bereichen prägen. Eine immer wieder auftauchende Idee ist zum Beispiel die, dass das Metaverse einen neuen Raum für Individualität, soziales Miteinander und gesellschaftliche Veränderungen bietet. Dies könnte erklären, wieso die Faszination für diesen virtuellen Cyber-Freiraum, der so ganz anders ist als Japans sonst durch starre Regeln und Hierarchien geprägte Gesellschaft, gerade hier so ausgeprägt ist. Solchen und ähnlichen Zusammenhängen zwischen technologischen Zukunftsvisionen, Kultur und Gesellschaft gehe ich mit meiner Forschung am DIJ in Tokyo auf den Grund.

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