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Fäden und Fährten: Eine Religionsgeschichte Istanbuls anhand textiler Überlieferungen

Dr. des. Esther Voswinckel Filiz

Wenn es um die Erforschung der Istanbuler Religionsgeschichte geht, liegt der Fokus meist auf schriftlichen Quellen. Textile Überlieferungen des Religiösen wie Stoffe und Kultgewänder spielen dabei hingegen eine untergeordnete Rolle. Doch gerade diese nicht-textuellen Überlieferungen sind es, die auch einen Einblick in zeitgenössische religiöse Praktiken eröffnen können.

Eigentlich sollte die Stadt auf der gegenüberliegenden Seite erbaut werden. Am asiatischen Ufer (etwa dort, wo heute der Stadtteil Pendik liegt) begann man mit dem Bau der Fundamente. Man schlug Pflöcke in die Erde und spannte zwischen ihnen Schnüre über den Boden, damit die Mauern gerade würden. Doch eines Nachts verschwanden diese Schnüre. Später fand man sie wieder: Vögel hatten die Fäden auf die gegenüberliegende, europäische Seite gebracht. Die Stadt wurde genau da errichtet, wo die Vögel die Fäden hingetragen hatten: auf der zu drei Seiten von Wasser umspülten historischen Halbinsel; dort, wo jetzt der Topkapı-Palast steht.” (Mündliche Information eines Fischers im Hafen von Salacak, Istanbul, 2020)

Vögel und Fäden

Dieser Gründungsmythos der Stadt Byzanz, später Konstantinopel, heute Istanbul, gehört zu den mündlichen Überlieferungen, die man sich in Istanbul bis heute in unzähligen Varianten erzählt. Sie handelt weder vom Heerführer Byzas noch von Kaiser Konstantin. Protagonisten der Geschichte sind vielmehr Vögel. Sie rupften die Fäden der ersten Baustelle aus dem Boden und trugen sie über den Bosporus, als hätten sie dort einen besseren Platz für ihr Nest gefunden. Die Geschichte Istanbuls beginnt in dieser Legende – wie könnte es bei der Stadt, die auf zwei Kontinenten errichtet ist und in deren Innerem sich das Wasser zweier Meere vermischt, anders sein – mit einem Seitenwechsel.

Die Legende macht nicht nur neugierig auf die Rolle von Vögeln (Abb. 1) in der Geschichtsschreibung und in den Praktiken der Zukunftsdeutung (man denke an das Lesen des Vogelflugs). Sie lenkt unseren Blick auch auf ein wichtiges stoffliches, nomadisches Element in der lokalen Erinnerung: die Fäden. Im Gegensatz zur Sperrigkeit der Bausubstanz sind sie leicht genug, um über das Wasser getragen zu werden. Sie gehören sowohl zur Erde als auch zum Himmel. Sie sind die Verbindung zwischen hier und dort, oben und unten, vielleicht auch zwischen Diesseits und Jenseits und zwischen den soliden Materialien der Sesshaftigkeit und der Flüchtigkeit der Erzählungen. Im oben wiedergegebenen Gründungsmythos sind die Fäden eine Art fliegendes Fundament.

Texte und Textilien

Welche Rolle spielen Fäden und Gewebe in der Istanbuler Religionsgeschichte? Im Vergleich zum Studium von Texten befindet sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit textilen Aspekten des Religiösen erst in den Anfängen. Mein religionsethnologisches Forschungsprojekt Fäden der Tradition: Kultgewänder und textile Medien des Istanbuler Sufismus. Eine Bestandsaufnahme lokaler Überlieferungen ist geleitet vom Motiv der Fäden sowie vom Begriff des Gewebes – verstanden sowohl als Metapher als auch als „Medium“. Ich befasse mich mit Stoffen und Gewändern in schriftlichen und mündlichen Überlieferungen, mit Tüchern, Fäden, Fetzen, mit alten und neuen Kleidungsstücken in zeitgenössischen rituellen Praktiken rund um Sufi-Heiligengräber (Abb. 2) und mit textilen Artefakten und ihren „Biographien“.

Wege eines Schuhs

Im Rahmen dieser Feldforschung bin ich zum Beispiel den Fährten eines glänzend roten Schuhs (pabuç) nachgegangen (Abb. 3). Dieser feine Lederschuh, der aus dem 16. Jahrhundert stammen soll, gehört zu den „persönlichen Hinterlassenschaften“ (emanetler) des berühmten Istanbuler Sufi-Heiligen Aziz Mahmud Hüdayi (1541-1628). Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Schuh als kostbare Berührungsreliquie unweit seines Mausoleums in Üsküdar (asiatische Seite Istanbuls) aufbewahrt. Im Jahr 1915 brachte man ihn aus Üsküdar über den Bosporus auf die europäische Seite der Stadt in den Topkapı- Palast. Hier sollte er während des Ersten Weltkriegs sicher verwahrt werden. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, der Abschaffung des Sultanats, der Gründung der Republik, dem Verbot der Sufi-Orden und der Schließung der Heiligengräber in den 1920er Jahren kam es nicht mehr zur Rückkehr des roten Schuhs nach Üsküdar. Bis heute befindet er sich im überaus schwer zugänglichen Archiv des Palasts. Nur ein einziges Mal, bei einer Sonderausstellung im Jahr 2010 im Rahmen der „Kulturhauptstadt Europas“, wurde er einige Wochen lang öffentlich gezeigt.

Meine Suche nach diesem Schuh machte mich darauf aufmerksam, dass diesem seltenen Gegenstand trotz seiner Abwesenheit im Mausoleum von Aziz Mahmud Hüdayi auch in der Gegenwart eine gewisse rituelle Bedeutung zukommt. Die Grabwächterin (türbedar) dieses Mausoleums zeigte mir nämlich auf ihrem Smartphone ein Foto eben dieses roten Schuhs (Abb. 4). Seitdem sie ihn in oben erwähnter Ausstellung gesehen hatte, sei es ihr wichtig, stets im Mausoleum solche Lederschuhe zu tragen, erklärte sie mir. Die Schuhe an den Füßen der Grabwächterin (Abb. 5) sind also ein Ergebnis verschiedener Übersetzungsschritte: der Überführung (translatio) des Schuhs über den Bosporus im Jahr 1915, seiner Archivierung, seiner Präsentation im Jahr 2010, und schließlich der Rückkehr des roten Schuhs als digitales Bild auf einem Smartphone und als daran orientierte, individuelle kultische Praxis der Grabwächterin.


Fährten der Istanbuler Religionsgeschichte

Solche Kontinuitäten und Neuerfindungen von Sufi-Traditionen bilden – um zur eingangs wiedergegebenen Legende über die Stadtgründung, die Vögel und die Fäden zurückzukehren – eine Art „fliegendes Fundament“ lokaler Praktiken und Überlieferungen. Ein genaueres Studium einzelner textiler Artefakte (ihrer Herstellung, der mit ihnen verbunden Praktiken und ihrer Wege durch die Stadt) bietet Gelegenheit, bisher wenig beachtete Aspekte der osmanischen und jüngsten Religionsgeschichte zu entdecken – von Details über das Alltagsleben bis zu höchst komplizierten mystischen Abhandlungen. So wurde ich im Rahmen meiner Recherchen rund um den roten Schuh zum Beispiel auf ein im Jahr 1606, also zu Lebzeiten des oben genannten Sufi-Heiligen Aziz Mahmud Hüdayi, verfasstes Manuskript über die mystische Bedeutung der Schuhe aufmerksam gemacht. Das Ausziehen derSchuhe wird in dieser bemerkenswerten Abhandlung des osmanischen Sufi-Gelehrten Abdullah Bosnevi (gest. 1644) als Ablegen von Dichotomien im Denken (ausgedrückt in den zwei Schuhen) wie Diesseits/Jenseits, Körper/Seele, Materie/Geist usw. geschildert, die für den Menschen ein Hindernis auf dem Weg zur „Einheit des Seins“ sind.

Die Religionsgeschichte Istanbuls findet – so sollte dieser kurze Ausflug in das Geflecht lokaler Überlieferungen zeigen – in einer besonderen Geographie statt. In dieser Geographie begegnet uns Religion nicht immer als Umgang mit dem Abwesenden oder Unsichtbaren – so eine der verbreiteten Definitionen des Wortes „Religion“. Wenn in Istanbul von einem „Drüben“ oder von etwas „Jenseitigem“ gesprochen wird, so ist damit nicht unbedingt der Himmel, das Jenseits oder ein Totenreich gemeint, sondern häufig die gegenüberliegende Seite der Stadt. In den religiösen Praktiken Istanbuls (verstanden sowohl als relegere, wiederlesen und als religare, wieder anbinden, rückbinden) lassen sich unzählige Momente des Seitenwechsels und des Übersetzens – von Ufer zu Ufer – entdecken. Das Nachzeichnen von Fährten einzelner tragbarer, textiler Objekte des lokalen Sufi-Heiligenkults eignet sich in besonderer Weise dazu, die Geschichte des Sufismus in Istanbul als komplexes Beziehungsgewebe zwischen Orten, Personen und Gegenständen in den Blick zu nehmen.

Ich danke Prof. Yasushi Tonaga (Universität Kyoto) dafür, dass er mir seine Präsentation „Taking-off Shoes according to Abdullah Bosnevi“ (Konferenz The Sacred Patrimony of Sufism von the Maghreb to China, IFEA Istanbul, Oktober 2019) zur Lektüre überließ.

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