Irlands „Krieg der Freunde“ und Polens revolutionäre Kämpfe auf dem Weg zur Unabhängigkeit waren geprägt von Helden wie Michael Collins, Eamon de Valera, Józef Piłsudski und Roman Dmowski. Hinter diesen Architekten der Unabhängigkeit wirkten Netzwerke, die mit knappen Ressourcen und drängender Zeit rangen – manchmal mit radikalen Konsequenzen. Was geschah, wenn die Geduld schwand, und die Uhr zu ticken schien? Und wie weit gingen einige, um den Traum von Freiheit wahr werden zu lassen? Das untersucht Michael Zok in seinem aktuellen Forschungsprojekt am DHI Warschau.
Eamon de Valera und Michael Collins, Józef Piłsudski und Roman Dmowski – diese Namen sind allen irischen und polnischen Schülerinnen und Schülern vertraut. Sie stehen für die polnische und irische Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts und spielen eine zentrale Rolle bei der Wiedererlangung der staatlichen Eigenständigkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Bis heute dominieren diese vier Namen die historische Forschung und zahlreiche Biografien beleuchten ihre Leben. Weniger bzw. nicht systematisch wurden bisher die Netzwerke, in denen sie agierten, beleuchtet. Dabei ist klar, dass diese vier Figuren – trotz ihrer Führungsqualitäten – nicht alleine die Unabhängigkeit erreichten. Sie waren auf ein ganzes Netzwerk an Unterstützerinnen und Unterstützern angewiesen. Diese Männer und Frauen im Hintergrund zu untersuchen, ist das Anliegen des Forschungsprojekts.
Netzwerke
In einem ersten Schritt geht es darum, diese Netzwerke um die vier Protagonisten herum zu rekonstruieren. Hierzu dienen die Nachlässe verschiedener Personen, die in den Unabhängigkeitsbewegungen aktiv waren und – idealerweise per Brief – Kontakt zu den Protagonisten und untereinander hatten. Neben Briefen stehen auch persönliche Treffen, die die (Auto-)Biografien erwähnen, sowie Artikel in Zeitungen als Quellen im Vordergrund. Konkret geht es bei den zeitgenössischen schriftlichen Materialien darum zu untersuchen, wer wie mit wem geschrieben hat.
Zeit, Geld und Radikalisierung
Der zweite Schritt des Projekts widmet sich dem Inhalt dieser Kommunikation: Hier geht es darum, zu untersuchen, wie die verschiedenen Akteurinnen und Akteure mit den begrenzten Ressourcen der Bewegungen umgingen bzw. welchen Umgang mit diesen sie diskutierten. Konkret geht es um die Ressourcen „Zeit“ und „Geld“.
Das Projekt geht von der Annahme aus, dass innerhalb der Unabhängigkeitsbewegungen verschiedene Wahrnehmungen von Zeit und Dringlichkeit vorherrschten, die dann zu unterschiedlichen Entscheidungen führten: Dementsprechend, so die These des Projekts, führte die Wahrnehmung, dass der jeweiligen Unabhängigkeitsbewegung und damit auch der Nation ‚die Zeit davonlaufe‘, dazu, dass sich bestimmte Gruppen innerhalb der Bewegungen radikalisierten und die Unabhängigkeit mit Gewalt erreichen wollten. Die vorher durchgeführte Rekonstruktion der Netzwerke dient dazu, diese Gruppen anhand verschiedener Kriterien (ihrer Beziehungen untereinander, ihrem Alter, Werdegang, etc.) zu ordnen, und deren Einfluss auf die Entscheidungen der oben genannten vier Protagonisten der Bewegungen zu untersuchen.
Der Weg zum Cogadh na gCarad, dem ‚Krieg der Freunde‘ (Irland)
Innerhalb irischen Unabhängigkeitsbewegung des späten 19. Jahrhunderts herrschte bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Vorstellung vor, dass man die Unabhängigkeit durch den parlamentarischen Weg erreichen könnte. So diskutierte das britische Parlament immer wieder die Home Rule, also die innere Autonomie Irlands im Rahmen des Vereinigten Königreichs. Der Erste Weltkrieg machte diesen Hoffnungen einen Strich durch die Rechnung und führte zugleich zu einer Radikalisierung innerhalb der irischen Bewegung, u.a. weil aufgrund der Wehrpflicht Iren in die britische Armee eingezogen wurden. Die Folge war ein Schwenken zu Gewalt, die sich im Osteraufstand 1916 und nach 1918 im Irischen Unabhängigkeitskrieg entlud. Mehr noch, nachdem sich die britische Regierung mit der Unabhängigkeitsbewegung auf die Errichtung des Irischen Freistaates im Süden der Insel und Nordirlands in deren Nordosten geeinigt hatte, führte die Ablehnung von Teilen der provisorischen irischen Regierung zum Bürgerkrieg, der weitaus blutiger war als der vorherige Unabhängigkeitskrieg. Aus den Weggefährten Michael Collins (der für die Annahme des Vertrages war) und Eamon de Valera (der dagegen war) waren über Nacht Feinde geworden. Dieser Riss ging durch die gesamte irische Gesellschaft und teilte Familien; daher auch der poetische Name ‚Krieg der Freunde‘ für den Bürgerkrieg.
Für die nationale Revolution? Oder gegen sie? (Polen)
Innerhalb der polnischen Unabhängigkeitsbewegung gab es eine andere Entwicklung. Hier überlagerten die Industrialisierung und die ‚soziale Frage‘ die nationalen Bestrebungen. Für die Bewegung bedeutete dies im Kern: Sollten zunächst die sozialen Probleme gelöst werden und dann erst die nationale Unabhängigkeit, oder andersherum? Und wie sollten sie gelöst werden? Während, wie im irischen Fall, Roman Dmowski und seine Unterstützerinnen und Unterstützer für eine stufenweise Entwicklung und gegen (revolutionäre) Gewalt eintraten, war Gewalt für Józef Piłsudski, der damals zu den polnischen Sozialisten gehörte, eine mögliche Option. Dies hing auch damit zusammen, dass die zaristische Geheimpolizei die Sozialisten im russischen Teilungsgebiet verfolgte und unter ihnen ein permanenter Mangel an Geld für die politische Arbeit herrschte. Daher wurde Piłsudski auch als einer der Teilnehmer eines Überfalls auf einen Postzug berühmt, bevor er zu einem Militärführer der Polnischen Legionen während des Ersten Weltkriegs aufstieg. Diese unterschiedlichen Einstellungen zum Einsatz von Gewalt in den verschiedenen Gruppen der Bewegung endeten nicht mit dem Ersten Weltkrieg, stattdessen dominierte die Feindschaft zwischen den Netzwerken die polnische Gesellschaft nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1918.
‚Die Zeit und das Geld rinnt…‘
Dieser kurze historische Abriss zeigt, wie sehr die Wahrnehmungen vorhandener oder fehlender Zeit (für die Nation) und Geld (für die Nationalbewegungen) bestimmte Gruppen innerhalb der irischen und polnischen Unabhängigkeitsbewegungen radikalisierten. Diese wandten sich dann Gewalt als schnellsten Weg, um die Unabhängigkeit zu erlangen, zu. Dabei waren es nicht die vier Protagonisten, die diese Entscheidungen für oder gegen Gewalt fällten, sondern auch sie bewegten sich in einem Feld persönlicher Beziehungen, das ihre Entscheidungen beeinflusste; wobei man bis heute wenig über diese Hintermänner und -frauen weiß.
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