Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Industrialisierungsprozesse im Globalen Süden den gleichen Weg einschlagen wie zuvor Länder im Globalen Norden. Doch was passiert, wenn sie das nicht tun? Oft wird dies als Widerstand lokaler Kulturen interpretiert – und gleichzeitig als Beweis dafür, dass diese Kulturen angeblich nicht mit der industriellen Moderne vereinbar seien. Christian Strümpell vom MWF Delhi hinterfragt diese eurozentrische Sichtweise und zeigt, wie vergleichende Fallstudien aus Südasien und Lateinamerika ein neues Verständnis von Industrialisierung eröffnen können.
Die industrielle Produktionsweise hat in den Ländern, die heute häufig als Globaler Süden bezeichnet werden, innerhalb der letzten 100 Jahre rapide zugenommen. Mein Projekt erforscht diesen Prozess und seine sozialen und kulturellen Effekte, um ein nuanciertes Bild dieser Entwicklung zu erhalten. Dafür nutze ich ethnographische Methoden, wie langfristige Aufenthalte, Beobachtungen und Gespräche. Im Fokus steht, welche kulturellen Ideen und Verhaltensweisen sowie Gesellschaftsstrukturen in und um spezifische Industrien auf welche Weise die Arbeits- und Lebenswelten dort geprägt haben. Gleichzeitig schaue ich, wie diese Lebens- und Arbeitswelten dazu geführt haben, dass bestehende Strukturen hinterfragt, neu ausgehandelt, und aufgebrochen wurden – oder auch nicht. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass konkrete Arbeitsprozesse auch spezifische Sichtweisen auf die Welt und Identitäten generieren. Gleichzeitig prägen gesellschaftliche Machtverhältnisse und darin gründende Vorstellungen von Gender, Alter und Ethnizität, welche Arten von Arbeit Menschen offenstehen.
Stahlarbeiter in Indien
Als Beispiel hierfür dient meine abgeschlossene Forschung in der indischen ‚Stahlstadt‘ Rourkela. Rourkela wurde in den 1950er Jahren von der indischen Regierung gegründet, um die gerade gewonnene Unabhängigkeit durch den Aufbau einer einheimischen Stahlindustrie und wirtschaftlicher Autarkie abzusichern. Mehr noch, die staatliche Stahlindustrie sollte auch einen neuen Menschen für eine neue Gesellschaft schaffen, die bäuerliche Bevölkerung aus der hierarchischen Kastenordnung befreien und zu Arbeitern und Indern und Inderinnen machen. Die enge Zusammenarbeit im Stahlwerk und das enge Zusammenleben in der angeschlossenen Werksstadt würden es unmöglich machen, traditionelle Kontaktbeschränkungen zwischen Kasten aufrechtzuerhalten und diese so fast zwangsläufig ihrer Bedeutung berauben.
Die leitenden Angestellten waren in der Regel Angehörige höherer Kasten, die Arbeitern niedriger Kasten und insbesondere lokaler Gemeinschaften, die seit der britischen Kolonialzeit als ‚Stämme‘ klassifiziert werden (siehe auch den Beitrag „Indigene Ökologien: Naturwissenschaften und die Politik der Stammesrepräsentation in Südasien“), nur die Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit an den extrem heißen und staubigen Hoch- und Koksöfen des Stahlwerks zusprachen. Das automatisierte und angenehmere Arbeitsumfeld der Walzwerke blieb diesen Arbeitern also verwehrt. Diese konkrete Organisation der Arbeitsabläufe bewirkte, dass zwar die Unterschiede zwischen verschiedenen höheren Kasten sowie verschiedenen niedrigeren Kasten und ‚Stämmen‘ abnahm, der Unterschied zwischen diesen beiden Blöcken aber noch deutlicher an Schärfe gewann. Mehr noch, wegen der Diskriminierungserfahrung zogen es Arbeiter – das Stahlwerk beschäftigte fast ausschließlich Männer – niedrigerer Kasten und ‚Stämme‘ vor, sich mit ihren Familien nicht in den modernen Werkssiedlungen niederzulassen, sondern in ungeplanten Siedungen oder Slums. Beide Blöcke waren also im städtischen Raum getrennt, und das reproduzierte die Ungleichheit zwischen ihnen, aber auf eine neue Weise. Die guten Schulen, die allen Kindern der Stahlarbeiter unentgeltlich offenstanden, lagen in den Werkssiedlungen. Dadurch wurden Kinder aus niedrigen Kasten und ‚Stämmen‘ vom Zugang zu Bildung de facto weitgehend ausgeschlossen, was sie auf dem lokalen Arbeitsmarkt benachteiligte. Als dann das Stahlwerk in den 1990er Jahren nur noch Arbeiter mit Fachausbildung beschäftigte, mussten sie als Tagelöhner ihr Auskommen finden. Zur Kastenungleichheit kam jetzt auch eine Klassenungleichheit hinzu.
Arbeiter und Arbeiterinnen in Bangladeschs Konfektionsindustrie
Ergänzend hierzu untersuche ich in meiner bereits seit 2019 laufenden Forschung zur Bekleidungsindustrie in Dhaka, Bangladesch den Zusammenhang zwischen Industriearbeit und Gender. Im Gegensatz zur indischen Stahlindustrie ist die Bekleidungsindustrie in Bangladesch in privater Hand, auf den Export nach Europa und Nordamerika ausgerichtet und beschäftigt (wie fast überall sonst) in hohem Maße Frauen, in der Regel junge Frauen vom Land. Die Industrie stellt das gern als Beitrag zur Ermächtigung von Frauen dar, auch wenn Gewerkschaften und sozialwissenschaftliche Forschung hinlänglich aufgezeigt haben, dass der Grund für diese Wahl in der patriarchalen Stereotypisierung von jungen Frauen vom Land als fügsam und billig liegt. Allerdings hat der Anteil von Frauen in der Industrie in den letzten zehn Jahren deutlich abgenommen und liegt laut statistischen Erhebungen nur noch bei 50 Prozent (von ehemals 80). Vereinfacht gesagt liegen die Gründe für diesen Wandel in der zunehmenden Computerisierung der Produktionsprozesse, in die große Produzenten in Bangladesch in den letzten Jahren investiert haben, um im Wettbewerb mit anderen Ländern des Globalen Südens mitzuhalten. Für diese Produktionsprozesse rekrutieren die großen Produzenten eine besser ausgebildete und de facto männliche Arbeiterschaft. Offen bleibt die Frage, wie sich die starke Präsenz von Männern mit besseren technischen Qualifikationen auf die Beziehungen innerhalb der Arbeiterschaft auswirkt. Führt sie zu einer Spaltung? Oder bleibt die Solidarität erhalten, die in der Vergangenheit relativ erfolgreiche industrieweite Streiks mehrerer Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern ermöglichte?
Der Vergleich: Industriearbeiter in Peru und Kolumbien
Mein neues Projekt am Max Weber Forum for South Asian Studies richtet einen vergleichenden Blick auf Industriearbeiter und -arbeiterinnen in Lateinamerika, um die Beschränkung vieler Studien auf einen Vergleich mit Europa und Nordamerika zugunsten eines Süd-Süd-Vergleichs zu überwinden. Der Fokus des Projekts liegt auch hier auf der Stahl- und der Bekleidungsindustrie, auf einem ebenfalls in den 1950er Jahren gegründeten staatlichen Stahlwerk in Chimbote, Peru, und auf der privaten Bekleidungsindustrie im kolumbianischen Medellín. So werden Unterschiede innerhalb Lateinamerikas einbezogen, die sich in diesem Fall in der relativ starken Präsenz indigener Gemeinschaften in Peru und deren Abwesenheit in der kolumbianischen Region Medellín bemerkbar machen.
Ethnizität oder raza spielt folglich in Chimbote eine wichtige Rolle, vergleichbar zu Kaste in Rourkela, Indien, wie ein erster explorativer Besuch zeigte. Allerdings zeigen sich diese Parallelitäten nicht bei der Arbeitsteilung in der Stahlproduktion, sondern auf dem lokalen Arbeitsmarkt: Stahlarbeiter waren spanischsprachige Migranten von der Küste, während Quechua-sprachige Migranten aus den Anden in der lokalen Fischmehlindustrie arbeiteten, die kurze Zeit nach der Stahlindustrie dort Fuß fasste und zu den größten der Welt zählt. Wie in Dhaka, Bangladesch, konzentriert sich meine Forschung zur Konfektionsindustrie in Medellín auf die wechselseitige Beziehung zwischen Arbeit und Gender, die sehr viel weniger starken historischen Veränderungen ausgesetzt war als in Dhaka, welche aber auch in geringerem Maße auf den Export ausgerichtet ist.
Genau wie in Rourkela und Dhaka geht die Forschung in Chimbote und Medellín der Frage nach, welches Gesellschaftsverständnis Arbeiterinnen und Arbeiter in unterschiedlichen Positionen in der Industrie produzieren und wie sich die Industrien, Produktionstechniken und Absatzmärkte historisch gewandelt haben. Zusammengenommen soll diese Forschung zu Südasien und Lateinamerika zeigen, wie sich in diesem Verständnis die geteilten, aber gleichzeitig sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Kolonialismus, asymmetrischer Integration in Weltmärkte, politischer Unabhängigkeit und postkolonialen Nationenbildungsprozessen in Südasien und Lateinamerika widerspiegeln, und wie ein solcher Vergleich ermöglicht, den Blick für die Besonderheiten der jeweiligen Verläufe von Industrialisierung zu schärfen.
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