Der Nomadismus ist eine der ältesten Lebensformen des Menschen. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stieg das Interesse an dieser ungebundenen Lebensführung. In den aufkommenden Debatten wurde Nomadismus sowohl als Entwicklungshemmnis diskutiert als auch zu einer romantisierten Alternative eines ungebundenen, freien Lebens stilisiert.
Unter dem Titel „Nomadismus – Ein Entwicklungsproblem?“ veranstaltete die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin im Frühjahr 1982 eine Tagung. Die begleitende Publikation schien diese Frage direkt zu beantworten: Auf dem Titel ist ein über einen Stadtplan von Berlin gelegtes Diagramm zu sehen, in dem sich eine Kurve zunehmenden Wirtschaftswachstums mit einer gegenläufigen Kurve abnehmenden Nomadismus kreuzt (Abb. 1). Die suggestive Kraft dieses Bildes wird lediglich durch ein Fragezeichen gebrochen. Eine solche Gegenüberstellung von Nomadismus als einer spezifischen Lebensform mit allgemeinem Wirtschaftswachstum scheint klärungsbedürftig. Ließ sich Nomadismus nicht in die Vorstellungen moderner Entwicklungspolitik des späten 20. Jahrhunderts integrieren? Und inwiefern wurde Nomadismus als Herausforderung oder sogar Hemmnis politischer und wirtschaftlicher Entwicklungsmaßnahmen erachtet? Schließlich stellten Nomadinnen und Nomaden, die primär in asiatischen und afrikanischen Steppenlandschaften verortet und zuweilen als Zeugen vergangener Zeiten erachtet wurden, im 20. Jahrhundert eine Minderheit der Weltbevölkerung dar.
Anderes Leben
Der jahrtausendealte Nomadismus stand paradigmatisch für menschliches Leben im Einklang mit Tieren und der Natur. Derartige Sozialverbände aus Menschen, die mit ihrem Vieh zu jahreszeitlich passenden Weidegebieten zogen, unterschieden sich grundlegend von Lebens- und Wirtschaftsformen sesshafter Kulturen. Und diese Gegenüberstellung von Nomadismus und Sesshaftigkeit ließ sich vor allem auf „-losigkeiten“ engführen: Aufgrund ihrer Mobilität etwa hatten Nomaden und Nomadinnen nur sehr begrenzten Besitz, sie wirtschafteten nicht effizient, sondern um ihren Lebensunterhalt zu sichern, und sie waren nicht an einem Ort situiert, wie es die moderne Norm des sesshaften Daseins vorzugeben schien (Abb. 2).
Nomadisch Lebenden wurde so seitens ihres sesshaften Gegenübers zugeschrieben, ortlos, nahezu besitzlos und vor allem staatslos zu sein. Sie formten ein soziales Gebilde jenseits moderner Staatlichkeit und entzogen sich der Logik wettbewerbsorientierten Wirtschaftens und Handelns. Gerade diese wahrgenommene Andersartigkeit des Nomadismus forderte Selbstverständlichkeiten menschlichen Miteinanders stets von Neuem heraus.
Versprechen von Freiheit
Etwa zeitgleich widmete sich der britische Schriftsteller Bruce Chatwin (1940–1989) dem Nomadismus aus ganz anderer Perspektive. In seinen populären Reisetagebüchern, die er seit den späten 1970er Jahren veröffentlichte, inszenierte er sich als weltenbummelnder Individualist, bar jeder Verpflichtung und Zugehörigkeit: ein rastloser Nomade, der auf seinen Reisen nach Südamerika, Afrika und Australien stellvertretend für viele den Traum ultimativer Freiheit lebte. Seine Ausgestaltung des „Nomadismus“ war jedoch nicht länger eine menschliche Sozialform, sondern ein romantisiertes privates Projekt. Die Andersartigkeit des Nomadismus stellte aus dieser Perspektive nicht etwa eine Bedrohung für die Lebensweise westlicher Industriegesellschaften dar, sondern vielmehr die Verheißung eines Ausbrechens aus der Alltäglichkeit, aus den Zwängen von Erwerbstätigkeit und staatlicher Kontrolle. „Nomadisch“ leben schien eine Hinwendung zu sich selbst zu ermöglichen und einen Weg zur Suche nach Sinn aufzuzeigen.
Wie leben?
Selbstverständlich waren der Nomadismus, den die Humangeographen in Berlin diskutierten, und der von Chatwin inszenierte nicht deckungsgleich. Und doch lohnt es, sich damit auseinanderzusetzen, weshalb es gerade diese „ursprüngliche“ Form menschlicher Soziabilität war, die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur seitens der Ethnologie und Entwicklungspolitik untersucht wurde, sondern auch von Weltreisenden sowie Theoretikerinnen und Theoretikern neue Aufmerksamkeit erhielt. Unabhängig davon ob Nomadinnen und Nomaden mangels Besitz als besonders gefährlich und kriegerisch oder doch als unkorrumpierbar und ehrlich galten, ob sie aufgrund ihres Grenzen überschreitenden Lebens als Bedrohung wahrgenommen wurden oder dieses schlicht als Entwicklungshemmnis, ob sie als grundlegend „fremd“ und unzeitgemäß oder aufgrund ihrer Lebensform gerade umgekehrt als zukunftsweisend galten: Die intensive Auseinandersetzung mit Nomadismus zeigt, dass zur Gewohnheit gewordene Modelle menschlichen Zusammenseins in Bewegung geraten waren und einer Neubestimmung unterzogen wurden. Gerade weil Nomadismus als etwas genuin „Anderes“ aufgefasst wurde, eignete sich diese Lebensform als Spiegel und schließlich als Projektionsfläche für wahlweise befürchtete oder eben erhoffte Veränderungen.
In wissenschaftlichen, politischen wie auch feuilletonistischen Debatten um Nomadismus fokussierten sich demnach grundlegende Aushandlungsprozesse darüber, welche Lebensformen als gut und angemessen galten. Im Kontext globaler territorialer und politischer Neuordnungen durch Dekolonisierungsprozesse und die Blockkonfrontation während des Kalten Krieges erodierte eine Konsensvorstellung von Regierungspraktiken und gesellschaftlicher Ordnung. Daher bedurfte schließlich die Idee des Sozialen selbst einer Neubestimmung. Deren Inbegriff war nun nicht mehr selbstverständlich jene klar umgrenzte räumlich-politisch-soziale Einheit, die seit dem 19. Jahrhundert über Zugehörigkeit entschieden hatte: der Nationalstaat (Abb. 3). Stattdessen wurden Alternativen erprobt – so auch im Sprechen über Nomadismus als einer Lebensform, die wahlweise als Bedrohung oder eben als Verheißung aufgefasst wurde.
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