Leben in Quadraten - Utopische Ökologien in der Frühen Neuzeit

Dr Mirjam Hähnle

Wie können Menschen und Tiere zusammenleben? Wie sollen Land und Ressourcen in einer Gesellschaft verteilt werden? Mirjam Hähnle erforscht am DHI London, wie in literarischen und gebauten Utopien vom 16. bis 18. Jahrhundert Antworten auf solche Fragen gesucht wurden.

In utopischen Projekten der Frühen Neuzeit wurden alternative Gesellschaftsformen erdacht und erprobt. Ausgangspunkt der neu entworfenen Inseln, Siedlungen, Städte oder Bergwerke war meistens die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen. Nicht-menschliche Entitäten, so möchte ich zeigen, waren ein oft übersehener Bestandteil solch utopischer Projekte: In den literarischen oder praktisch ausgeführten Entwürfen eines besseren Miteinanders tummeln sich Tiere, Pflanzen und Mineralien, aber auch Aufbauten und Infrastrukturen zu ihrer Kontrolle. Solch utopischen Ökologien, die Menschen in ihren Beziehungen zu Organismen und Infrastrukturen umschließen, gehe ich im Sinne einer transnationalen Mikrogeschichte nach. Dabei geht es darum, lokale utopische Projekte, sei es ein Buch, ein Bergbauprojekt oder eine koloniale Stadtgründung, in ihren globalen Zusammenhängen zu verstehen.

Einer meiner Ausgangspunkte war ein Stadtplan von Philadelphia aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Abb. 1). Mit dem Bau der Stadt, die als Zentrum der neu gegründeten britischen Kolonie Pennsylvania entworfen worden war, wurde bereits in den 1680er Jahren begonnen. Betrachtet man den „Plan of the improved city“, der ungefähr achtzig Jahre später vom damaligen Surveyor General erstellt wurde, erkennt man die bereits errichteten Gebäude und zwei städtische Grünflächen.

Im Gegensatz zu den Häusern erhebt die bildliche Darstellung der Parks nicht den Anspruch, reale Strukturen darzustellen. Die kleine Inschrift besagt, dass sie „nach dem Plan von Holmes“ gezeichnet wurden, was sich auf den ersten Plan der neuen Stadt von 1683 bezieht (Abb. 2). Die Parks spiegeln eine urbane grüne Utopie wider, die aus dem ursprünglichen Entwurf einer noch nicht existierenden Stadt aus dem 17. Jahrhundert ausgeschnitten und in die Karte einer bestehenden Stadt aus dem 18. Jahrhundert verpflanzt wurde.

Was wir hier erkennen können, ist die Koexistenz mehrerer Zeiten und Existenzweisen von ‚Stadt‘ auf einer Karte. Es handelt sich um eine Fantasie, wie eine Stadt aussehen sollte. Das Einfügen von Grünflächen entspricht der klassischen Definition von Utopie: Einerseits verweist diese Technik auf eine Vorstellung von einem geordneten Raum und damit von Gesellschaft, andererseits scheint dadurch eine Unterscheidung zwischen den gegenwärtigen und den erwünschten Zuständen der Stadt geschaffen zu werden.

Mit meinem Projekt möchte ich zeigen, dass die Fantasie, der wir auf der Karte begegnen, mit einem größeren, transatlantischen Netzwerk utopischer Ideen und Praktiken verbunden war. Es lassen sich Vorstellungen und Handlungen von Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks finden, die Philadelphia inspirierten und veränderten und die im oben genannten Sinne als ‚utopisch‘ bezeichnet werden können.

Im Laufe meiner bisherigen Forschungen ist dabei immer deutlicher geworden, dass utopische Projekte wie Philadelphia als Laboratorien einer sich wandelnden frühneuzeitlichen Oeconomia fungierten. Unter Oeconomia verstehe ich, vereinfacht gesagt, das vorherrschende ökonomische Konzept der Zeit, das den Oikos oder Haushalt in den Mittelpunkt aller Beziehungen stellte. Dieser umfasste die Menschen, Organismen, Dinge und Artefakte. Im Rahmen solcher Projekte wurden also nicht nur radikale Alternativen zur aktuellen sozio-politischen Ordnung formuliert, sondern auch die Beziehung des Menschen zur Natur verhandelt.

‚Heilige Experimente‘ und die Kolonialität utopischer Projekte

Für William Penn, den englischen Quäker, der Pennsylvania gründete, waren die Kolonie und die Stadt Philadelphia in der Tat „heilige Experimente“. Die Beziehung zwischen Gott, den Menschen und der nicht-menschlichen Umwelt spielte eine entscheidende Rolle in den heiligen Experimenten von Philadelphia und anderen utopischen Projekten. Die Verbindung von Religion und Ökologie hat ihre Wurzeln in einem transatlantischen Netzwerk protestantischer Utopien. Insgesamt war die Vision einer Stadt als „city of refuge“ (D.J. Lewis) für religiöse Minderheiten und Verfolgte stark von einer deutschsprachigen intellektuellen Tradition inspiriert, etwa von Johann Valentin Andreaes Utopie ‚Christianopolis‘ (1619). Vormoderne Vorstellungen einer beseelten Natur setzten der Aneignung von Menschen und nicht-menschlichen Entitäten in manchen frühneuzeitlichen Utopien dabei noch enge Grenzen. Dass das nicht so sein muss, beweisen die expansionistischen Untertöne jener Utopie, die dem Genre erst den Namen gab: In Thomas Morus‘ ‚Utopia‘ (1516) wird die Kolonisierung benachbarter Regionen und Menschen als probates Mittel angeführt, um einem eventuellen Mangel an natürlichen Ressourcen vorzugreifen.

William Penn ließ sich in seinen Plänen für seine nordamerikanische Kolonie und die Planstadt Philadelphia von Thomas Morus‘ Utopie inspirieren. Die friedliche Begegnung von Europäer*innen und amerikanischen indigenous people in einer üppigen natürlichen Umgebung waren Teil von Penns Vision einer Zufluchtsstadt. Die expansionistischen Untertöne von Morus‘ Utopia beeinflussten seine Pläne für Philadelphia jedoch ebenso. In meinem Projekt wird es darum immer wieder darum gehen, wie Utopien zum Aufbau „protestantischer Imperien“ (C.G. Pestana), zu ihren Praktiken der Staatsbildung und ihren Vorstellungen von einer kolonialen Zukunft beitrugen.

Eigentum und Allmende, oder: Unordnung im Gitternetz

William Penn plante Philadelphia mit Blick auf utopische Ideen von Gemeineigentum und kollektive Ressourcennutzung. Doch die Stadt, die auf Land errichtet wurde, das Penn von König Karl II. von England zur Begleichung königlicher Schulden geschenkt worden war, war sein Eigentum. Das Gitternetz war ein Muster von Eigentumsverhältnissen, das Hausbesitz erst vorrauschauend plante und dann dokumentierte. Im Laufe der Zeit breitete sich dieses Raster auf die Kolonie aus und zog drastische Veränderungen einer Kulturlandschaft nach sich, die von den Kulturtechniken der Lenape indigenous people wie Jagen, slash and burn und Ackerbau geprägt war.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erstreckten sich jedoch Wälder und Weiden in das Gitternetz des städtischen Raums hinein, von dem ein Großteil nur auf der Karte existierte und noch nicht bebaut war. Im Prinzip beanspruchte Penn das Eigentum an allen Flächen, die nicht verkauft oder abgesteckt worden waren. Im frühen 18. Jahrhundert unterband er die Ausweisung von Allmenden, d.h. von frei zugänglichen Wirtschaftsflächen in der Hand der Bewohner*innen. Was die geplanten Grünflächen der Stadt anbelangt, schien er jedoch der Meinung zu sein, dass sie in öffentlicher Hand sein und zu einer moralisch verbesserten städtischen Lebensweise beitragen sollten – und so überließ er zwei von ihnen der Stadt. Unerwarteterweise verschafften sich jedoch die Stadtbewohner*innen Zugang zu den Parks und nutzten diese bis ins späte 18. Jahrhundert hinein für verschiedene Formen von Allmendebewirtschaftung wie etwa zur Viehweide. Die Stadtbewohner*innen übten damit das aus England importierte ‚right of commons‘ aus. Außerdem wurde der südöstliche Park, der der Stadt überlassen wurde, in Teilen als Gemeinschaftsgrab und Viehmarkt genutzt. In einem anderen Teil durften freie und versklavte African Americans ihre Toten begraben und zum Feiern von Festen zusammenkommen.

Unabhängig von der Nutzung der Grünflächen wollten die Bewohner*innen schließlich nicht, dass diese vollständig aufgelöst wurden. Als Penns Sohn 1751 einen der Parks aufgeben wollte, um Platz für eine Erweiterung des Krankenhauses zu schaffen, lehnten die Verantwortlichen dies ab, „[a]s it is a part of a square allotted by the late Honorary Proprietary for public purposes, as the old maps of the city will show“. Einige Jahre später gab der Stadtrat den bereits bekannten Stadtplan in Auftrag, sodass „the publick Squares laid down in the original Plan of the City” und „the Claim of the Inhabitants of the said City thereto may not be prejudiced.“ Penns utopischer Plan wurde erneut wirkmächtig – dieses Mal, um den Plänen eines anderen Penns für die Zukunft der Stadt entgegenzuwirken.