Universitäten gehören zu den ältesten Institutionen Europas und waren seit dem Mittelalter von der geografischen und sozialen Mobilität ihrer Mitglieder geprägt. Dr. Pauline Spychala untersucht die Lebensbedingungen ausländischer Gelehrter an französischen Universitäten im Spätmittelalter. Im Fokus stehen Herausforderungen wie die Trennung vom familiären Umfeld, der Erwerb fremdsprachlicher Kompetenzen, soziale Spannungen mit anderen Gruppen und die materielle Lebenssituation. Zur Transkription ihres umfangreichen Quellenkorpus setzt sie automatisierte Texterkennung ein.
Über die Lebensbedingungen ausländischer Gelehrter in französischen Städten des Spätmittelalters ist nur wenig bekannt. Die Inhalte ihrer Vorlesungen und der institutionelle Rahmen, in dem sie sich bewegten, sind zwar gut erforscht, die Forschung hat sich bisher aber weniger mit der Organisation ihres Lebens außerhalb der Kursinhalte und Kollegien beschäftigt. Mit Kollegien war damals ein Ort gemeint, an dem der Student oder Magister lebte und wohnte. Diese Orte beherbergten im späten Mittelalter auch Bibliotheken und es fand dort Unterricht statt. Ausländische Gelehrte besuchten nur sehr selten die Pariser Kollegien und konnten nicht von einem eigenen Kolleg für ihre Gruppe profitieren. Einige von ihnen blieben mehr als ein Jahrzehnt an ihrem Studienort, weitaus länger als die fünf Jahre, die für die Erlangung eines Magistergrades und der damit verbundenen zweijährigen Lehrverpflichtung erforderlich waren. Ein Beispiel dafür ist der Gründer der Universität Heidelberg, Marsilius von Inghen, dessen Aufenthalt in Paris zwischen 1358 und 1380 belegt ist. Unbekannt bleibt jedoch, wo er lebte, welche sozialen Kontakte er außerhalb des universitären Umfelds pflegte und wie seine Beziehungen zur Pariser Bevölkerung aussahen.
Ausländische Gelehrte an französischen Universitäten
In diesem Projekt werden ausländische Gelehrte als Personen definiert, die von außerhalb der Grenzen des französischen Königreichs kamen und Studenten oder bereits Magister waren. Sie bildeten eine kleine Gruppe von höchstens einigen Dutzend Personen pro Jahr unter den Tausenden, die im 14. und 15. Jahrhundert an der Pariser Universität eingeschrieben waren. Ihre Herkunft lässt sich in den Quellen oft durch Beinamen oder andere Hinweisen erkennen. Als zentrale Quellengrundlage dienen juristische Dokumente des Pariser Parlaments, des damaligen königlichen Gerichtshofs. In seinen Plädoyerregistern wurden sämtlich vor diesem Gericht verhandelte Streitfälle detailliert dokumentiert. Obwohl diese Quellen stark von der Rhetorik der Anwälte geprägt sind, die ihre Mandanten verteidigen wollten, enthalten sie dennoch wertvolle Informationen – etwas zu verbalen Auseinandersetzungen, Diebstahlvorwürfen oder finanziellen Streitigkeiten. Dadurch lassen sich gängige Klischees über Studenten als gewalttätige, trinkfreudige und exzentrische Figuren hinterfragen und stattdessen ihre alltäglichen Beziehungen, etwa zu Bäckern oder Wasserträgern, genau untersuchen.
Der Gebrauch der Volkssprache ist ein weiteres interessantes Thema, da Latein die obligatorische Universitätssprache war, alltägliche Interaktionen aber auf Altfranzösisch stattfanden. Bisher wurde die Volkssprache in der Forschung vor allem im Kontext der Wissensverbreitung im Spätmittelalter untersucht. Doch sie spielte auch in Konflikten eine Rolle – sowohl als Indikator geografischer Herkunft als auch als Argument in Gerichtsverfahren.
Die Register liefern zudem Hinweise auf die räumliche Verteilung ausländischer Gelehrter in Paris. Die Topografie mittelalterlicher Städte war stark von der sozialen Verteilung im Stadtgebiet geprägt, wobei bestimmte Viertel durch spezifische Berufsgruppen dominiert wurden. Das Pariser Quartier Latin, das noch heute auf die Universität verweist, war im Mittelalter durch einen komplexen Rechtsstatus gekennzeichnet. Die aus den Quellen gewonnenen Daten ermöglichen es, nicht nur die Kollegien, sondern auch die Wohnorte einheimischer und ausländischer Gelehrter kartografisch zu erfassen. Zwar ist bekannt, dass Magister eigene Häuser besaßen und dort Studenten beherbergten, konkrete Beispiele zu ihren Wohnorten sowie eine Typologie der Unterkünfte fehlten jedoch bislang.
Die HTR im Dienst großer Textkorpora
Die Plädoyerregister des Pariser Parlaments umfassen ein Korpus von mehreren zehntausend Seiten, von denen nur zwischen vier und zehn Prozent der Fälle ausländische Gelehrte betreffen. Der umfangreiche Quellenbestand führte bisher zu unvollständigen archivarischen Inventaren und lückenhaften prosopographischen Datenbanken. Mithilfe von automatisierter Texterkennung von Handschriften (Handwritten Text Recognition – HTR) kann dieser Mangel behoben werden, indem sie den Volltext dieser Quellen in einem computergestützten Verfahren transkribiert. Eine zentrale Herausforderung bei der Anwendung dieses Werkzeugs ist die Veränderung der Quellen im Laufe der Zeit. Die handschriftlich verfassten Register wurden von mehreren Personen geschrieben, deren Handschriften mehr oder weniger variabel sind. Durch Machine Learning lernt die Software, die unterschiedlichen Schreibweisen zu erkennen, um dann mit einem verfeinerten Modell bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein weiterer Aspekt ist die sprachliche Variation zwischen der Mitte des 14. und dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die Auflösung von Abkürzungen stellt hierbei ein besonderes Problem dar, insbesondere im Hinblick auf die Normalisierung und Korrektur des transkribierten Textes.
Ein zentraler Aspekt des Projekts ist die Analyse der Auswirkungen digitaler Methoden auf die historische Forschung. Eine präzise Kenntnis der eingesetzten Software ist essenziell, um ihre Einschränkungen zu erkennen und die Art der generierten Ergebnisse richtig einzuordnen. Das Projekt untersucht diese Fragestellung aus zwei Perspektiven: Einerseits werden die beiden verwendeten Softwarelösungen eScriptorium und Transkribus analysiert. Zum anderen stehen die Eigenschaften des Transkriptionsmodells im Fokus. Diese variieren je nach den wissenschaftlichen und redaktionellen Zielsetzungen der Personen, die sie erstellt haben, sowie nach der Art der Quellen, mit denen sie trainiert wurden.
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