Das Projekt „Tanz/Musik digital“ erschließt historische Ballettkunst neu: Erstmals werden Musik und Bewegung in einer digitalen Edition vereint und historische Choreographien in 3D-Animationen visualisiert. Das Projektteam bringt Musikhandschriften, choreographische Notationen und ikonographische Quellen zusammen, um Tänze des 18. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen. Ein spannendes Projekt, das nicht nur neue Einblicke in die Ballettgeschichte gibt, sondern eine zukunftsweisende Grundlage für die digitale Tanzforschung schafft.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Projekts ‚Tanz/Musik digital‘ entwickeln eine Methode zur digitalen Edition historischer Ballette, die neben der Musik auch Körperbewegung in Form von Posen, Gesten und choreographierten Schrittfolgen miteinschließt. Dafür bringt das Team schriftliche Beschreibungen und bildliche Darstellungen mit Texten über die Theorie und Praxis des Theaters, der Schauspielkunst und der Rhetorik in Verbindung. Darüber hinaus werden im Projekt die Zusammenhänge zwischen musikalischem und tänzerischem Gestus analysiert.
‚Tanz/Musik digital‘ nimmt sich somit einer besonderen Herausforderung für die Edition an: Ballett ist durch die Verbindung von Musik und Bewegung stets interdisziplinär angelegt. Während für gewöhnlich nur Musik von Balletten ediert wurde, schließt ‚Tanz/Musik digital‘ die Quellen zum Tanz mit ein und analysiert sie. Darüber hinaus werden diese Quellen ebenfalls visualisiert.
Szenare, also kurze schriftliche Zusammenfassungen der Handlung von Balletten, und Zeitzeugenberichte enthalten oft Hinweise zu Choreographie - ebenso wie Bilder oder die Musik selbst. Darüber hinaus geben Schauspiel- und Rhetorikschulen sowie Tanztraktate oder Sammlungen von Tänzen Hinweise auf die Ästhetik und Semantik von Posen, Gesten und Tanzschritten. Im Rahmen des digitalen Projekts wird eine Methodik entwickelt und zugleich erprobt, um eine Musikedition durch diese zusätzlichen Informationen zu Posen, Gesten, Bewegung und Tanz zu ergänzen.
Das Projektteam umfasst Expert:innen zu Tanznotation sowie digitaler Edition und entwickelt ein Editionsmodell, das neben der Musik auch die Quellen für den Tanz mit einbezieht und durch Animationen und 3D-Bildanalysen ergänzt.
Technologische Innovation und praktische Anwendung
Für die technische Umsetzung des Projekts ist die Weiterentwicklung der MovEngine-Technologie zentral. Diese Software, die der Tanzwissenschaftler Henner Drewes entwickelt hat, ermöglicht eine formale Beschreibung und vierdimensionale Darstellung von menschlicher Körperbewegung auf Grundlage von Tanznotation. Zudem wird die bereits etablierte Edirom-Technologie, die für digitale Musikeditionen genutzt wird, um ein Modul für Bewegungsdarstellung ergänzt. Dadurch können die mit MovEngine erstellten Bewegungsanimationen mit Musik-, Bild- und Textdaten verbunden und synchron dargestellt werden.
Dieses umfassende Editionsmodell wird anhand des Balletts La Guirlande enchantée (1757) von Franz Anton Hilverding und Joseph Starzer konkret aufgebaut und erprobt. Dieses Ballett ist als Fallbeispiel prädestiniert, da es aus dem Reformkontext des Wiener Repertoires des mittleren 18. Jahrhunderts stammt, seine Stilistik zwischen barocker „haute danse“ und pantomimischem Handlungsballett liegt und zu ihm besonders vollständige und vielgestaltige Quellen existieren. Die Musik des Balletts, das erstmals zum Geburtstag von Kaiser Franz I. Stephan am 11. Dezember 1757 am Wiener Burgtheater aufgeführt wurde, ist durch eine Musikhandschrift überliefert. Über die Handlung gibt eine im Almanach à l’usage des Théatres (Wien 1758) und im Journal encyclopédique (Paris 1758) veröffentlichte szenische Beschreibung ebenso Auskunft wie über die ausführenden Tänzerinnen und Tänzer. Weiter sind zu dem Ballett fünf Szenenbilder erhalten. Diese werden im Editionsprojekt ‚Tanz/Musik digital‘ auf bestimmte Posen und Haltungen der ausführenden Tänzerinnen und Tänzer analysiert, für MovEngine digital kodiert und annotiert und als 3D-Modellierungen visualisiert und erschlossen. Durch den Abgleich mit Beschreibungen von Gesten und deren Semantik für den Tanz und die Rhetorik lassen sich aus den statischen Posen Informationen über ihre Fortsetzung als Bewegung erschließen, aber auch ihre Bedeutung im Rahmen der Balletthandlung entschlüsseln. In Gasparo Angiolinis Tanztraktat Lettere di Gasparo Angiolini a Monsieur Noverre sopra i balli pantomimi finden sich weiter Informationen allgemeiner Natur zur Tanzästhetik des mittleren 18. Jahrhunderts, aber auch konkrete Informationen über die Stilistik des Choreographen von La Guirlande enchantée Franz Anton Hilverding, dem Lehrer von Angiolini. Quellenmaterial zu Gesellschafts- wie Bühnentanz liegt in Form von Notaten in einer eigens entwickelten Schrift für Choreographien vor. Aufgrund der Beschaffenheit der Musik des Balletts können bestimmte Tanzsätze identifiziert werden und mit den Choreographienotaten in Verbindung gebracht werden. Weiter lassen sich aufgrund der Kompositionsweise mit dialogischen Techniken, motivischer Lautmalerei oder der Wiederverwendung von bekannten Melodien Zusammenhänge zwischen Handlung und Musik herstellen. Über das Editionstools Edirom können diese aufgezeigt und beschrieben werden. Aufgrund der vielgestaltigen Quellen, die Auskunft über die Choreographie des Balletts La Guirlande enchantée geben, lässt sich so ein Modell entwickeln, das auch auf andere Fälle angewandt werden kann. Es steht damit modellhaft für die Möglichkeiten einer disziplinübergreifenden (Musikwissenschaft, Tanzwissenschaft, Digital Humanities) integralen Edition für Tanz und Musik.
Das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt ist am DHI in Rom, an der Universität Paderborn und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz angesiedelt. Das Projektteam besteht aus M.A. Tobias Bachmann (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz), Dr. Henner Drewes (Folkwang Universität der Künste), PD Dr. Vera Grund (DHI Rom), Marius Ledwig (Folkwang Universität der Künste), Prof. Dr. Andreas Münzmay (Universität Paderborn) und Dr. Eleonora Di Cintio (DHI Rom) .
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