Finanzspekulationen wecken seit jeher Hoffnungen und Ängste – je nach Ausgang sorgen sie für Lust oder Frust. Christine Zabel untersucht am DHI Paris wie die Menschen im Frankreich des 18. Jahrhunderts Spekulationen verstanden und bewerteten. Ihre Forschung eröffnet spannende Einblicke in die Wirtschaftsgeschichte und bietet Perspektiven für eine Kultur- und Wissensgeschichte der Ökonomie.
Kann Spekulation Sicherheit schaffen? Auf den ersten Blick scheint diese Frage widersprüchlich. Wirft man einen Blick auf die Finanzgeschichte der letzten rund einhundert Jahre - vom Schwarzen Freitag 1929 (24./25. Oktober) über den Schwarzen Montag 1987 (19. Oktober), die Finanzkrise 2008 oder die Börsencrashs im Januar 2020 im Rahmen der Corona-Krise - scheint die Antwort leicht: Allein die Tatsache, dass wir von „schwarzen Tagen“, „Crashs“ und „Blasen“ sprechen, zeigt die Fragilität und Unberechenbarkeit, die wir mit Finanzspekulationen verbinden. Auf der anderen Seite diskutieren wir in Deutschland und anderen Ländern darüber, unsere Altersvorsorge über Aktienfonds, also über Spekulationen, abzusichern. Vielleicht ist die Antwort auf diese Frage, ob Spekulation Sicherheit schaffen kann, also komplexer als es zunächst scheint. Schon zu den Anfangszeiten eines global agierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems war den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die Komplexität dieser Frage bewusst. Dabei fanden sie überraschende Antworten auf die Frage, wie (Finanz-)Risiken in Sicherheit umgewandelt werden können.
Versorgungssicherheit und Staatspleite
Für die Menschen im Frankreich der Mitte des 18. Jahrhunderts war diese Frage ganz konkret in Hinblick auf die Getreideversorgung und die hohe Staatsverschuldung relevant. In den 1750er und 1760er Jahren plädierten die Freihandelsbefürworter um den Handelsintendanten Vincent Gournay, den wir heute als Wirtschaftsminister bezeichnen würden, für die Reform eines in ihren Augen veralteten und schwerfälligen Regulierungssystems. Dieses schrieb vor, wer wann auf welchen Märkten tätig sein durfte, und bedingte hohe Ein- und Ausfuhrzölle. Die Gruppe um Gournay forderte ein freies System, in dem Spekulation Versorgungssicherheit garantieren sollte. Die spekulierenden Händler konnten ihrer Meinung nach besser als ein regulatives System auf die Unwägbarkeiten des Lebens wie Unwetter und Missernten reagieren und vorausschauend handeln. Sie waren darin geübt, jede Veränderung im komplizierten Handelskosmos zu verstehen: Sie antizipierten und kalkulierten verschiedene Szenarien im Voraus und behielten Konkurrenz, Angebot und Nachfrage im Auge. Die Spekulationen der Kaufleute würden auf diese Weise Versorgungssicherheit und stabile Preise garantierten. Kurzum: Ein spekulatives Freihandelssystem war für seine Befürworter Ausdruck einer rationalen Handelspolitik.
Hoffnung durch Emotionsmanagement
Doch wie sollte das französische Volk vor dem Hintergrund der Hungerkrisen des 18. Jahrhunderts von diesen Ideen überzeugt werden? Hungernde Menschen forderten nämlich auf den Straßen des Königreichs ganz im Gegenteil ein stärkeres staatliches Eingreifen in den Getreidehandel. Die Reformideen wurden zunächst in Zeitungen kommuniziert. Hier sollte gezeigt werden, wie Händler durch Beobachtung von Preisentwicklung, Konkurrenz und Nachfrage verschiedene Szenarien entwarfen, deren Gewinnpotenzial sie gegeneinander abwägten. Der Verweis auf die Spekulation diente dazu, die Emotionen der Menschen gezielt zu lenken. Mit Verweis auf Spekulation wurde das Kollektiv der Franzosen und Französinnen als Wirtschaftsgemeinschaft gedeutet und erkannt: Rationale Politik braucht nicht nur Vorausschau und Kalkulation von möglichen Szenarien, sondern muss vor allem auch Emotionen steuern. Spekulation war deshalb für die Freihandelsanhänger der 1750er und 1760er Jahre ein Hoffnungsbegriff, der mathematische Rationalität und Datenevidenz mit einer Emotionspolitik verband.
Vergangene Hoffnungen als Hindernis in der Gegenwart
Die Hoffnungen, die mit dem spekulativen Freihandel verbunden wurden, konnten sich nicht beweisen, denn die 1763 und 1764 eingeführten Reformen wurden schon Ende des Jahrzehnts wieder zurückgenommen und die alten Regelungen wieder eingeführt. Damit war die Spekulation aber noch nicht am Ende: In den späten 1780er Jahren übertrugen Mathematiker sie auf den Finanzbereich und entwickelten Wahrscheinlichkeitsrechnungen für Kredit- und Rentenmodelle. Doch dies wurde der Spekulation als Handelspraxis bald zum Verhängnis: Die Revolutionäre erklärten 1789, trotz der extremen Verschuldung niemals den Staatsbankrott erklären zu wollen. Damit verpflichteten sie sich, die Staatsschulden zu übernehmen, die die französische Krone zuvor vor allem durch Anleihen bei Privatanleger und Privataanlegerinnen gegen lange und hohe Rentenzahlungen aufgenommen hatte. Um diese in die Zukunft gerichteten Schulden abzuzinzen, stellte das revolutionäre Finanzkomitee 1793 ausgerechnet den Mathematiker Emmanuel-Etienne de Duvillard ein, der sich Ende der 1780er Jahre mit der mathematischen Spekulation auf Leibrenten einen Namen gemacht hatte. Gleichzeitig diffamierte das Komitee jedoch den Leibrentenhandel und damit auch die Spekulation als niederträchtiges, egoistisches Spiel mit dem Gemeinwohl. Spekulation wurde nun zum Zeichen enttäuschter Hoffnungen der Vergangenheit, die in der Gegenwart nicht mehr einlösbar waren.
Kampf zwischen privaten und öffentlichen Interessen
Die Spekulanten, in den 1760er Jahren noch Garanten der Versorgungssicherheit, wurden nun im Verlauf der Revolution vom Bild des am eigenen Profit interessierten Papierhändlers überlagert. Sie wurden als Wucherer und Blutsauger diffamiert, die das neue Revolutionsregime „ausbluten“ würden, wenn nicht gegen sie vorgegangen würde. Spekulation wurde so zum Kampfbegriff einer neuen Gegenwart, die der alten nicht recht entkommen konnte.
In dieser Frontstellung des neuen Regimes gegenüber der Spekulation spiegelt sich auch ein Kampf zwischen privaten und öffentlichen Interessen: Spekulation war in einem aufklärerischen Zugriff als gemeinschaftsstiftende partizipatorische Praxis öffentlich diskutiert worden; finanzielle Interessen des Staates und diejenigen privater Anleger und Anlegerinnen, wie Eigentum und Grundversorgung, wurden damit zusammen betrachtet. Beim Handel mit Leibrenten wurden private Kreditgeber und Kreditgeberinnen quasi zu Eignern und Eignerinnen des Staates. Das revolutionäre Finanzkommittee wollte diese Vermischung von Privatem und Öffentlichem, von Sozialem und Politischem aufbrechen. So wurde Spekulation in der Folge als eine ins Private verlagerte, virtuelle und risikoaffine Kapitalakkumulation verstanden, die mit der Idee von Sicherheit und Versorgung nur noch wenig zu tun hatte.
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