Bonn/Moskau, den 13.01.2021 – In den zurückliegenden dreißig Jahren ist eine neue Erinnerungskultur entstanden. Sie stellt die Verfolgten und Opfer von Diktaturen und Massenverbrechen in den Mittelpunkt. In jüngster Zeit – vor allem aus Anlass des 80. Jahrestags des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags und seines geheimen Zusatzprotokolls, des Beginns des Zweiten Weltkrieges 1939 sowie in Verbindung mit dem 75. Jahrestag seines Endes 1945 – hat jedoch die Politik den Umgang mit der Vergangenheit konfliktreich aufgeladen. In Deutschland, Russland und Polen sind geschichtspolitische Tendenzen kritisch zu beobachten, die zwar vom Inhalt her grundverschieden, in ihrer Funktion jedoch sehr ähnlich sind: es geht nicht mehr um einen Dialog, sondern um eine affirmative Selbstbespiegelung.
Das politisch motivierte Sprechen über die Vergangenheit reanimiert vielfach nationale Abgrenzungsdiskurse, in denen es um feste Zuschreibungen geht, wer als Opfer und wer als Täter zu gelten hat. Diese konfrontative Ausrichtung macht eine von Empathie mit Verfolgten und Opfern geleitete Erinnerungskultur kaum möglich. Doch gleichzeitig und verbunden mit dem Verlust der letzten Zeitzeugen, entstehen neue – noch von der politischen Macht unabhängige – Formate der Kriegserinnerung. Es kommen vergessene und unbequeme, heroische und leidvolle Geschichten an das öffentliche Licht. Diese sind nicht mehr unpersönlich oder abstrakt und haben somit das Potential, die Gesellschaften gegen die Ausgrenzungsdiskurse der Gegenwart zu sensibilisieren.
Das Podium diskutiert, welche Wege zum Erhalt und zu einer Revitalisierung einer lebendigen, empathischen und lokal verwurzelten Erinnerungskultur denkbar sind – sowohl innerhalb von Gesellschaften als auch über Ländergrenzen hinweg. Warum an den Zweiten Weltkrieg erinnern: Welche Bedeutung hat die Vergangenheit für unsere Gegenwart? Wie können wir das Konfrontative, das uns die Geschichtspolitik aufzwingt, überwinden und zurückkehren zu dialogischem Erinnern und gegenseitiger Empathie? Wie lässt sich eine in den Gesellschaften Osteuropas doch sehr lebendige Erinnerung im deutschen Gedächtnis verankern, ohne eine Opferkonkurrenz entstehen zu lassen? Liegt womöglich in der tatsächlichen Verbindung der Erinnerung an den Holocaust mit dem Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion eine Chance, das festgefügte Gedenken wieder zugänglicher, weil fassbarer, zu gestalten?
Diese und weitere Fragen diskutieren:
Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej, Universität Warschau
PD Dr. Andreas Hilger, Stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau
Hera Shokohi, BA, Studierende im MA Studiengang Osteuropäische Geschichte an der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Moderation: Dr. Ekaterina Makhotina, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
GiD Lab „Erinnerungskulturen im Zeichen von geschichtspolitischem Stress: aktuelle Herausforderungen in Deutschland, Polen und Russland“
27. Januar 2021, 10-12 Uhr, online
Eine Anmeldung ist bis zum 25. Januar 2021 per E-Mail (gid(at)maxweberstiftung.de) möglich.
Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe: gid.hypotheses.org
Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland fördert die Forschung mit Schwerpunkten auf den Gebieten der Geschichts-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in ausgewählten Ländern und damit das gegenseitige Verständnis. Sie unterhält zurzeit weltweit zehn Institute sowie weitere Forschungsgruppen und Büros. Mit ihren Infrastrukturen bietet die MWS beste Voraussetzungen für exzellente geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung, die durch unmittelbare Nähe zu den Forschungsgegenständen und im Austausch unterschiedlicher Perspektiven und Herangehensweisen entsteht.
Das Deutsche Historische Institut Moskau – eines der zehn Institute der Max Weber Stiftung – setzt sich seit seiner Gründung im Jahr 2005 dafür ein, die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Historikerinnen und Historikern aus Russland und Deutschland zu fördern. Das Institut unterstützt insbesondere jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Russland und Deutschland bei der Erforschung der eng miteinander verwobenen Geschichte der beiden Staaten. Den Prinzipien der wissenschaftlichen Objektivität und Transparenz verpflichtet, koordiniert das Institut deutsch-russische Forschungsprojekte aus dem Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte (16. – 20. Jahrhundert) in globaler Perspektive.
Die Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ist eine von elf deutschen Exzellenzuniversitäten und die einzige Universität mit sechs Exzellenzclustern. Geprägt wird die Universität seit 200 Jahren durch herausragende Persönlichkeiten verschiedenster Fächer und ein forschungsgeleitetes Studium. Mit rund 35.000 Studierenden, 6.000 Promovierenden, 550 Professuren und 6.000 Beschäftigten gehört sie zu den größten traditionsreichen und forschungsstärksten Universitäten in Deutschland. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie mehr Nobelpreisträger und Fields-Medaillisten hervorgebracht als jede andere deutsche Hochschule.
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