
Forschungsperspektive Ukraine
Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland verfolgt den andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit großer Sorge. Bereits kurz nach Beginn des Krieges wurden erste Hilfs- und Kooperationsmaßnahmen in die Wege geleitet, darunter ein Stipendienprogramm für ukrainische Forscherinnen und Forscher sowie Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen des DHI Moskau, um ihre Forschungsarbeiten vor Ort oder außer Landes fortführen zu können.
Die MWS-Institute dienen der friedlichen internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften und sind von unschätzbarem Wert, wo politische Spannungen die wissenschaftliche Freiheit bedrohen, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Druck stehen oder eine belastete Vorgeschichte den Dialog erschwert. Aus diesem Selbstverständnis heraus kann die MWS Anlaufstelle für betroffene Forscherinnen und Forscher sein und ihre Möglichkeiten als wissenschaftliche Brückenbauerin nutzen.
Stipendien am DHI Warschau
Seit März 2022 unterstützt die MWS über ihre Institute geflüchtete ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u.a. auch mit Stipendien. Das Deutsche Historische Institut (DHI) Warschau realisierte die Initiative „Forschungsperspektive Ukraine“. Aktuell forschen dort zehn ukrainische Historikerinnen und Historiker sowie Kolleginnen und Kollegen benachbarter Disziplinen, denen der Krieg die Arbeit in ihrem Heimatland unmöglich machte. Ihnen stehen die Forschungsinfrastruktur des Instituts, die Bibliothek und Büroarbeitsplätze zur Verfügung, um die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeiten unter den gegenwärtigen Bedingungen zu ermöglichen. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten nehmen vor Ort an Kolloquien, Buchmessen und Konferenzen teil, um ihre Forschungsprojekte vorstellen. Das Programm, das aus zentralen Mitteln der Stiftung unterstützt wird, ermöglichte in seiner ersten Phase die Förderung von dreimonatigen Forschungsaufenthalten am DHI in Warschau. Es knüpft an Forschungsperspektiven an, die am DHI Warschau bereits vor zwei Jahren ausgearbeitet wurden.
Interview mit Olga Barvinok im Newsletter des DHI Warschau, S. 34-35
Forschungsperspektive Ukraine am DHI Warschau
Zahlreiche weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die vor dem Krieg flohen, fanden an unterschiedlichen Standorten der MWS Unterstützung.
Aktuelle Forschungsprojekte
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Max Weber Stiftung beschäftigen sich schon lange mit der Nationsbildung im Osten Europas im Allgemeinen und der Ukraine im Besonderen.
Andrej Doronin: Die Ostslawen auf der Suche nach neuen überregionalen Identitäten (vom Ende des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) im Kontext der modernen Nationenbildung
Das internationale Projekt von Andrej Doronin hat untersucht, wie vor dem Hintergrund territorialer Zersplitterung und wechselnder Herrschaftskonstellationen in Osteuropa während der Frühen Neuzeit neue überregionale ethnokulturelleIdentitäten entstanden. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob bzw. wie weit die Ostslawen bereits zwischen 1500 und 1750 unterschiedliche frühmoderne Nationalbewusstseinsideologeme und damit eigene nationale Mythologien entwickelten. Es wurde gefragt, welche Rolle bei der Nationenbildung neue historische Legitimationsstrategien verschiedener Rus’ auf der einen Seite und westliche Einflüsse und Vorbilder auf der anderen Seite spielten. Darüber hinaus sollte geklärt werden, entlang welcher Linien Transfer und Verflechtung sowie der Austausch von Ideen, Diskursen und Modellen erfolgten. Das zentrale Anliegen des Projekts war es, zwei dominante anachronistische Narrative einer systematischen Revision zu unterziehen: zum einen das Konzept der ostslawischen Einheit, d. h. das Konzept eines auf einen Ursprung zurückgehenden primordialen Volkskörpers, und zum anderen das zur Zeit der Aufklärung entstandene und in der Historiographie noch vorherrschende Paradigma, dem zufolge ohne vorausgegangene Staatsbildung keine moderne Nation entstehen konnte.
Das Projekt wurde von Forschungsgruppen aus Russland, der Ukraine, Belarus, Litauen, Polen und Deutschland bearbeitet. Die Ergebnisse wurden in sechs Bänden publiziert (2017-2022). Der zuletzt auf Russisch erschienene Band „Когда зарождаются нации на востоке Европы?“ (Deutsch: Wann entstehen Nationen im Osten Europas?), Hg. von A. V. Doronin, Max Weber Stiftung: Bonn – Vilnius, 2022, ISBN 978-609-8314-17-5, geht der Frage nach, ob schon in der Frühneuzeit die neuen überregionalen Gemeinschaften verschiedener Rus’ entstanden, die sich selber als Ukrainer, Belarussen und Moskaurussen sahen und damit bereits eigene nationale Narrative erarbeiteten. Sollten Sie Interesse an diesem Forschungsband haben, kontaktieren Sie uns gerne unter info(at)maxweberstiftung.de.