‚Alte Sachen‘ besitzt jeder: Sie liegen herum und geraten oft in Vergessenheit. Manchmal aber kramt man Dinge von früher hervor, weil besondere Erinnerungen daran hängen. So verbinden alte Dinge die Gegenwart mit der Vergangenheit – und wie man darauf blickt, verrät viel über den eigenen Standpunkt.
Anfang des 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gewann die Vergangenheit auch für die internationale Musikgeschichte immer größere Bedeutung. Im 1861 gegründeten Königreich Italien wurde die Musik vergangener Zeiten zum Mittel gezielter kultureller Selbstdarstellung: als ein Denkmal der langen und bedeutsamen musikalischen Tradition des geeinten Italien, das auch dem deutschsprachigen Raum Konkurrenz machen sollte. Nicht nur wurde die politische Idee der Nation bis hin zur Radikalisierung im Faschismus schärfer konturiert, sondern es kam auch zu einer verstärkten Politisierung der ‚musica antica italiana‘ (alte italienische Musik). Dieser Prozess wird in einem musikwissenschaftlichen Forschungsprojekt am Deutschen Historischen Institut in Rom untersucht.
Lokaler Aktivismus – Gezieltes Erinnern
Was in den 1860er Jahren noch wie lokaler Aktivismus vereinzelter Fans der ‚alten Musik‘ wirkt, wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einer überregionalen kulturpolitischen Angelegenheit. Die Bemühungen um die ‚alte Musik‘ beschränkten sich nicht nur auf Entdeckerfreude und Sammelleidenschaft. Vielmehr handelt es sich um eine Bewegung, die sich gezielt dafür einsetzte, die musikalische Vergangenheit des ‚jungen Italien‘ Genre übergreifend ins Bewusstsein der Italiener zu rücken: zu Auge und Ohr, Herz und Kopf.
Gesteigerte Aufmerksamkeit für die ‚alte Musik‘ schufen die Anhänger der Bewegung zum Beispiel durch die Sichtung, Bearbeitung und Veröffentlichung von historischem Notenmaterial und theoretischen Abhandlungen aus Archiven und Bibliotheken. Darüber hinaus verfassten sie Aufsätze und neue Bücher zur ‚alten‘ italienischen Musikgeschichte. Auch Komponisten, die man als herausragend oder ‚zu Unrecht vergessen‘ bewertete, gerieten nun wieder in den Fokus. Hinzu kamen die Neuveröffentlichung von angeblich ‚falsch‘ behandelter Musik früherer Jahrhunderte und Notensammlungen mit ‚alter Musik‘ für den häuslichen Gebrauch. Außerdem stellte man Komponistenstatuen im öffentlichen Raum aus (Abb. 1), organisierte historische Konzertreihen und gründete musikalische Vereine zur Förderung ‚alter Musik‘ in Städten wie Florenz, Napoli, Ferrara, Siena oder Rom. Solche Aktivitäten zielten auf die flächendeckende Verbreitung von Musikgeschichte in der Gesellschaft ab. Man wollte die Musik von früher in der Gegenwart somit nicht nur wieder sicht- und hörbar machen, sondern sie sollte auch langfristig als Kulturschatz in der Geschichte verankert werden. Eine lange Musiktradition bedeutete auch, die Kultur der Gegenwart veredeln zu können: über Jahrhunderte gewachsen, tief im ‚Eigenen‘ verwurzelt, und im internationalen Vergleich doch von beispiellosem Gewicht. Um die Originalität der Italiener zu untermauern, war man bald auf eine strikte Abgrenzung von der deutschen Musikkultur und -wissenschaft bedacht – obwohl die beiden Musikgeschichten vieles verbindet.
Musikalischer Mythos und Einheitsstiftung
Vertreter des praktischen Musiklebens – Komponisten, Sängerinnen, Pianistinnen oder Dirigenten (vgl. Abb. 2) – beteiligten sich ebenso an der Bewegung wie Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, darunter Historiker, Gräzisten, Philosophen und natürlich Musikwissenschaftler.
Der Mythos der ‚alten Musik‘ Italiens weckte zunehmend auch das Interesse ranghoher Politiker. Mussolini etwa interessierte die alte Musik vor allem in Verbindung mit dem Kult um seine Person als Förderer der musikalisch-kulturellen Tradition ‚aller Italiener‘ und er war in Ergänzung zu Pamphleten wie „Mussolini musicista“ von 1927 (Abb. 3) auch als Liebhaber von Monteverdi, Frescobaldi oder Vivaldi bekannt.
Die ‚alte Musik‘ erregte selbst die Aufmerksamkeit des Papstes. So beschwor Pius XII. die weit zurückreichende, kirchenmusikalische Einzigartigkeit Italiens als gemeinnützige Sache. Giovanni Pierluigi da Palestrina betrachtete er gleichauf mit Dante, Franz von Assisi, Michelangelo und dem Kölner Dom: als italienischen Beitrag zur Geschichte der gesamten westlichen Zivilisation. 1939 würdigte Pius XII. auch die neue, in Rom veröffentlichte Gesamtausgabe der Musik von Palestrina als Sinnbild für überragende geistige und moralische Potenz. Dabei handelte es sich um eine ‚verbesserte Version‘ von 33 zuvor in Leipzig erschienenen Notenbänden zum Werk des Komponisten, den man damit gewissermaßen nach Italien zurückholte.
Sich mit ‚alter Musik‘ in nationalen Zusammenhängen zu beschäftigen bedeutet also, verschiedene Musikformen mit Aktivitäten aus weltlichen, religiösen und politischen Kontexten in Beziehung zueinander zu setzen. Wer aus welchen Gründen wann dafür sorgte, dass ‚alte Musik‘ verstärkt studiert, gespielt, gedruckt oder diskutiert wurde, besaß oft keine rein musikalische Motivation, sondern drängte auch auf eine ‚Italianisierung‘ der Geschichte durch Musik. Dahingehende Vereinnahmungen des Repertoires spiegeln sich in Notenausgaben, Konzertprogrammen, Fotografien oder auch in Postkarten und Briefen von italienischen Musikern, Verlegern oder Staatsfunktionären, die sich speziell für die Verbreitung der ‚alten italienischen Musik‘ engagierten. Das junge Königreich Italien war in den Jahrzehnten nach seiner Gründung mit dem Mangel einer einenden, nationalen Kulturgeschichte konfrontiert. ‚Alte Musik‘ und ihre Geschichte stellten eine Möglichkeit dar, diese Lücke zu füllen.
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