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Für eine Geschichte der künstlerischen Beziehungen zwischen Ost und West im Europa des Kalten Krieges

Dr. habil. Mathilde Arnoux

Obwohl Europa zur Zeit des Kalten Krieges von der Spaltung in Ost und West geprägt war, hat es auf künstlerischer Ebene stets Berührungspunkte und Begegnungen gegeben. Diese fanden sowohl unmittelbar zwischen Kunstschaffenden als auch mittelbar durch Briefwechsel, Ausstellungen oder Lektüren statt. Mathilde Arnoux untersucht, wie diese Begegnungserfahrungen dazu beitragen, die Dichotomien des Kalten Krieges zu hinterfragen.

Meine Forschungen befassen sich mit dem künstlerischen Austausch zwischen Ost und West im Europa des Kalten Krieges. Ich beschäftige mich mit Fragen, die sich aus den Begegnungen der Kunst aus unterschiedlichen geokulturellen Räumen ergeben. Soweit sind sie Teil einer transregionalen Kunstgeschichte. Jedoch wählen sie einen anderen Ansatz als die sogenannten areal studies, die sich für Kultur, Gesellschaft, Politik oder Historiografie einer einzelnen Region interessieren. Im Fokus meiner Forschungen steht insbesondere die Kunst in den kapitalistischen und sozialistischen Ländern Europas im Kalten Krieg

Die Kunst im Lichte historiografischer Erneuerungen

Die Kunst des Kalten Krieges ist geprägt von ihrer Politisierung und Instrumentalisierung durch die miteinander rivalisierenden soziopolitischen Systeme im sogenannten Ost- und West-Block. Die in der Zeit des Kalten Krieges entstandenen Diskurse über Kunst – seien sie kunstkritischer oder wissenschaftlicher Art – haben die Logik der Abgrenzung mehr oder weniger bewusst und explizit fortgesetzt. Diese Abgrenzung zwischen Ost und West hat sich bis 1989 in der Isolation der jeweiligen Blöcke entwickelt. Seit Beginn des Jahrtausends hat die historische Forschung, gefolgt von der Kunstgeschichte, begonnen, diese „Teilung“ zu hinterfragen. Trotz der Spaltung hat es immer Begegnungen auf künstlerischer und kulturpolitischer Ebene zwischen Ost und West gegeben, sei es in Form von Ausstellungen oder persönlichen Kontakten von Kunst- oder Kulturschaffenden.

Fallstudien

Im Fokus meiner Arbeit stehen verschiedene Formen von künstlerischen Beziehungen oder Begegnungen. Diese Begegnungen können unmittelbar zwischen Personen stattgefunden haben, sich aber auch aus der Ferne, zum Beispiel durch einen Briefwechsel, entwickelt haben, oder durch Ausstellungen, Lektüren, anekdotische Erzählungen oder Radiosendungen vermittelt worden sein. Folgende Fallstudien von persönlichen und intellektuellen Begegnungen zwischen Akteurinnen und Akteuren der Kunstwelt(en) aus Frankreich, Deutschland und Polen werden bislang unternommen: Die Korrespondenz zwischen der Kunstkritikerin Ewa Garztecka aus Polen und dem Maler André Fougeron aus Frankreich ist von Interesse, da in ihr jeweilige Positionen zu kommunistischer Kunst debattiert werden. Das Verhältnis von Anka Ptaszkowska, einem Gründungsmitglied der 1966 in Warschau gegründeten Galerie Foksal, mit dem in Paris lebenden Künstler Daniel Buren ist für die jeweilige Konzeption des Ort-Begriffs in der Kunstpraxis der 1970er Jahre wichtig. Im Ost-Berlin der 1980er Jahre begegnen der junge DDR-Kunstwissenschaftler Eugen Blume und sein Künstlerfreund Erhard Monden der Arbeit von Joseph Beuys und verfolgen die Suche nach dem „wahren sozialistischen Realismus“. Alle Beteiligten dieser Begegnungen schreiben sich in die jeweiligen Narrative ein, die sich während und nach dem Kalten Krieg entwickelt haben. Es zeigt sich, dass künstlerische Praktiken, die zwar aus rivalisierenden geopolitischen Kontexten stammen, aber trotzdem miteinander in Beziehung stehen, dazu beitragen, den Umgang mit räumlichen und menschlichen Trennungen in der heutigen Welt kritisch zu analysieren. Die Konzeption der Begriffe, die im Mittelpunkt der Fallstudien stehen – sei es Realismus/Realität, Ost/West, Nord/Süd, Ort oder Kommunismus – offenbaren durch die Analyse die unterschiedliche Auffassung dieser Begriffe zwischen den Akteuren.


Forschungsfrage

Mich interessiert insbesondere, wie jede neue Erfahrung der Begegnung dazu anregt, die Dichotomie, die im Kalten Krieg auf die eine oder andere Weise das Wissen strukturiert, in Frage zu stellen oder zu schwächen. Jede Begegnung ist von Übersetzungsprozessen geprägt, die im Sinne von Vermittlung zwischen so diversen Dingen wie Idiomen, von Kunsttheorie oder kulturellem Erbe erfolgen und zu denen alle Akteure und Objekte einen individuellen, komplexen Bezug haben. Ihre genaue Betrachtung fordert dazu auf, den Kanon nationaler, geopolitischer, kunstwissenschaftlicher und ästhetischer Kategorien und Definitionen zu hinterfragen und neu zu erörtern. Dies erlaubt uns, die Interdependenzen zwischen den Systemen wahrzunehmen und ihre jeweiligen Besonderheiten herauszuarbeiten. So erforsche ich, wie künstlerische Praktiken, die zwar aus rivalisierenden geopolitischen Kontexten stammen, aber dennoch miteinander in Beziehung stehen, dazu beitragen, unseren Umgang mit räumlichen und menschlichen Trennungen in der heutigen Welt kritisch zu analysieren. Kunstwerke sind bereits Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung. Doch inwieweit ist es möglich, auch die Besonderheit von Kunsterfahrung in (geschichts-)wissenschaftliche Studien miteinzubeziehen? Kann die einzigartige Dimension des künstlerischen Blickwinkels auch die Neubetrachtung des Kalten Krieges mitgestalten und somit an der Neukonfiguration von historischen Narrativen, Analysen oder Interpretationen teilhaben?

Werkzeuge der Forschung

Integraler Bestandteil meiner Forschungsarbeit sind das gleichzeitige Wahrnehmen mehrerer Stimmen (polyphonisch Denken), das Ablehnen jeglicher autoritärer Vereinnahmung von Wissen und das Vermeiden von eindeutigen, definitiven Bestimmungen. Dies kann meines Erachtens nur gelingen, wenn die methodischen und historiographischen Instrumente, die uns zur Analyse künstlerischer Beziehungen zur Verfügung stehen, hinterfragt und gegebenenfalls neu entworfen werden. Zur Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnisse führe ich neben den Fallstudien auch regelmäßig Seminare und Workshops durch, in deren Rahmen historiografische und methodologische Fragen im Kollektiv diskutiert werden.

Das Seminar „Autoritäten der Kunstgeschichte“ (2016/2017 organisiert mit Lena Bader und Clément Layet) sondierte das Ausmaß der Hinterlassenschaften des Kalten Krieges in den Methoden und Interpretationen, die heute in der Kunstgeschichte Anwendung finden. Damit kritische Blicke auf die politischen und historischen Aspekte, die wissenschaftlichen Kategorien zugrunde liegen, gebündelt werden konnten, haben wir Forscherinnen und Forscher mit unterschiedlichen akademischen Hintergründen zusammengebracht und sie eingeladen, sich ihrer individuellen Laufbahn bewusst zu werden, aus der sie ihren Standpunkt formen. Auf Grundlage der von uns im Vorfeld zusammengeführten historiographischen Fragestellungen wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Verwendung von Konzepten, ideologisch geprägter Voreingenommenheit, der Begründung von Institutionen und der Interpretation von Kunst vor und nach 1989 erfasst.

Die Studientage zu „Westkunst, 1981: eine Historiografie der Moderne im Ausstellungsformat“ (im März 2022 organisiert mit Maria Bremer und Thomas Kirchner) untersuchten, welche Vorstellung vom Westen die Kölner Ausstellung Westkunst von 1981 hervorgebracht hat und inwiefern die durch diese Großveranstaltung hervorgerufenen Narrative implizit in der aktuellen Periodisierung und Historisierung der Kunst des 20. Jahrhunderts  fortgeführt werden. Es wurde die Frage behandelt, ob die Rezeption von Westkunst bereits die Konfliktzonen erkennen lässt, die sich eröffnen, wenn man die Kunstgeschichte der Moderne heute in einem globalen Kontext ausstellen will.

Das Seminar „Begegnung mit Realität. Realität von Begegnungen“ (2018–2019 organisiert mit Lena Bader) initiierte eine Reflexion darüber, wie künstlerische Praktiken aller Art dazu beitragen, Beziehungen in der Moderne zu denken.

Der Workshop „Polyphonie ausstellen?“ (2021–2022 organisiert mit Anne Zeitz, Dozentin für bildende Kunst an der Universität Rennes) begleitete die konzeptionelle und theoretische Ausarbeitung der Ausstellung „Polyphon(e). Mehrstimmigkeit in Bild und Ton“ (veranstaltet in den Partnerstädten Gera und Saint-Denis), in dessen Rahmen – ausgehend von dem Text „Probleme der Poetik Dostoevskijs“ des russischen Theoretikers Michail Bachtin – Begriffe wie polyphone Resonanzen, Dialoge, Stimmen, Modalitäten, (Zu)hören usw. in Bezug auf künstlerische Klangpraktiken im Mittelpunkt standen.

 

Weiterführende Links:

Online-Publikationen und -Ressourcen des Projekts »OwnReality. Jedem seine Wirklichkeit. Der Begriff der Wirklichkeit in der Bildenden Kunst in Frankreich, BRD, DDR und Polen zwischen 1960 und 1989«, https://dfk-paris.org/de/ownreality

Online-Edition (Open Access) der deutschen Übersetzung der 2018 auf Französisch erschienenen Habilitationsschrift: Mathilde Arnoux, Geteilte Wirklichkeit. Für eine Geschichte der künstlerischen Beziehungen zwischen Ost und West im Europa des Kalten Krieges, aus dem Franz. übersetzt von Stefan Barmann, Paris/Zurich/Berlin, Éditions de la Maison des sciences de l’homme/Diaphanes, 2021, Online-Edition: http://books.openedition.org/editionsmsh/26025, DOI: https://doi.org/10.4000/books.editionsmsh.26025.

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