Unabhängigkeit, Inklusion und „Superkraft“ für Kinder mit körperlichen Behinderungen – dies ist das Ziel sogenannter „Enabling-Technologien“, zu denen beispielsweise 3D-gedruckte Kinderprothesen mit Heldenmotiven zählen. Doch funktionieren solche Prothesen tatsächlich als „Enabler“, also als ermöglichende Technologie? Mit dieser Frage beschäftigt sich Melike Şahinol in ihrem Projekt „Additive Manufacturing: Enabling-Technologien in der Kindheit“.
Als „Enabling-Technologien“ werden jene Technologien bezeichnet, die eine radikale Innovation für den Bereich bringen, in dem sie eingesetzt werden. Wie der Name schon sagt, sind sie darauf ausgelegt, etwas zu ermöglichen. In Kombination mit anderen Technologien bietet ihr Einsatz eine höhere Leistungsfähigkeit und mehr Möglichkeiten für Nutzerinnen und Nutzer. Enabling-Technologien schaffen zudem Inklusion in den Bereichen Gesundheit, Unterstützung und Pflege. Dies geschieht u. a. durch den Einsatz verschiedener Geräte und Technologien, um Menschen mit Behinderungen zu helfen, so unabhängig wie möglich zu leben.
Ein Beispiel für eine solche Technologie ist der 3D-Druck, der die Medizintechnik bereits revolutioniert hat. Er stellt einen additiven Fertigungsprozess dar, bei dem Produkte durch eine Reihe von Schichten aufgebaut werden. Mit Hilfe von 3D-Druckern werden Möglichkeiten für den Druck von Organen sowie von Implantaten diskutiert und auch Körperersatzteile wie Hand- oder Beinprothesen ermöglicht. Die tatsächliche individuelle Funktionalität des fertigen Produkts, was genau mit welchem Output ermöglicht wird, hängt vom wahrgenommenen Bedarf der Akteure und der Perspektive ab, wie die Ergebnisse des Forschungsprojekts zeigen.
In der Medizin war der Bau von Prothesen für Kinder aufgrund ihres schnellen Wachstums aus unterschiedlichen Gründen eher „ineffizient“, weshalb Kinder erst ab der Pubertät Prothesen erhielten. Nach dem Contagan-Skandal in den 1970er Jahren in Deutschland bemühten sich Medizinerinnen und Mediziner sowie Prothesenbauerinnen und -bauer um individuelle Entwicklung von Prothesen für Heranwachsende. Da diese meist zu schwer waren oder aber Kinder ihre Füße anstelle der Hände einzusetzen lernten, wurden diese Prothesen abgelehnt. Während Normgebungen in der Prothetik individuelle Prothesenentwicklungen erschweren, ergeben sich heute mit dem Aufkommen der 3D-Drucktechnik neue, individuelle und kostengünstige Eigenschaften, auf den Kinderkörper abgestimmte mechanische Lösungen zu finden. Melike Şahinol untersucht in ihrem Projekt u. a., inwieweit 3D-gedruckte Kinderprothesen als Enabler, als ermöglichende Technologien, funktionieren. Der Fokus liegt auf den Erfahrungen von Kindern mit Körperdifferenzen der oberen Gliedmaßen mit 3D-gedruckten Prothesen. Die Untersuchung basiert auf einer mehrjährigen Feldforschung bei „Robotel Türkiye“, einer NGO-Plattform zur Erstellung einer individuell angefertigten und angepassten robotel (Bezeichnung für die 3D-gedruckte Prothese, deutsch: Roboterhand) aus dem 3D-Drucker, die dem weltweiten Netzwerk „e-NABLE“ angehört. Diese Plattform verbindet insbesondere Kinder mit Körperdifferenzen an der Hand oder am Unterarm mitfreiwilligen Helferinnen und Helfern. Zu den Freiwilligen gehören Personen aus Medizin, Programmierung, Technikfeldern, Unternehmen und den Ingenieurwissenschaften, oder Einzelpersonen, die ihren 3D-Drucker zur Erstellung einer an den Kinderkörper individuell angepassten robotel anbieten. Dem e-NABLE-Netzwerk kommt eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Ermöglichung und Einflussnahme von vielgestaltiger und individueller Körpermodifikationen zu. Denn durch den 3D-Druck werden individuelle, mit Motiven gestaltbare sowie farbig reichhaltige Prothesenkonstruktionen möglich. Eltern suchen dort Hilfe für ihre Kinder, damit diese die Hand mit der Fehlstellung „normal“ einsetzen können.
Erste Ergebnisse des Habilitationsprojekts deuten darauf hin, dass Maker, die 3D-gedruckte Prothesen für Kinder kostenlos zur Verfügung stellen, primär durch die individuelle Gestaltung mit z. B. Superheldinnen und -helden ein Mehr für Kinder anstreben, wohingegen Familien/Eltern durch die Prothese in erster Linie „Normalität“ für ihr Kind erreichen möchten. Viele Kinder wählen aber aufgrund der Vorstellungen der Robotel-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter verschiedene Motive und gestalten so ihre Prothese. Zu den beliebten Motiven gehören Batman, Superman, Frozen, Hulk, etc. Durch die Identifikation mit dem Superstar soll, so Vertreterinnen und Vertreter des e-NABLE-Netzwerks, die Besonderheit des Kindes, seine außergewöhnliche Stärke, hervorgehoben werden. Das Kind soll sich nicht so fühlen, als fehle ihm etwas, sondern als habe es etwas, was andere nicht haben. Manche Kinder berichten darüber, wie sehr sie sich darüber freuen , wenn sie von Fremden auf ihre Prothese angesprochen werden. Viele Kinder, die ihre Prothese zum ersten Mal mit zur Schule nehmen, berichten darüber, wie sie von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern bewundert wurden. Einige wollten sogar ebenfalls eine solche „Powerhand“ haben. Welche langzeitigen psychologischen Auswirkungen dies hat, bleibt eine offene Frage. „Normalität“ wird aus unterschiedlichen Gründen erst gar nicht angestrebt und obsolet. Die Adressierung von „Normalität“ wird durch die Adressierung des „Human Enhancement“ ersetzt. Die Prothese wird zum Täger und Symbol der „Superkraft“ oder der „Heilkraft“. Als ein Teilergebnis wurde zudem festgehalten, dass die 3D-gedruckte Prothese nicht nur eine sozial ermöglichende Körpertechnik ist, sondern aufgrund ihrer Materialität auch einschränkend, verletzlich und schmerzhaft für Kinder sein kann. Die somatechnische Konstruktion von Kinderkörpern und -identitäten wird als heroische Figur dargestellt, die zum Teil körperliches Sein produziert und erlebt - nicht immer im Interesse von Kindern mit Behinderungen. Um den Bedürfnissen dieser Kinder gerecht zu werden, plädiert Şahinol dafür, dass 3D-gedruckte Prothesen im Idealfall von diesen Kindern selbst, oder gemeinsam mit ihnen, entwickelt werden.
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