Das internationale Interesse an Kunst aus der arabischen Welt ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark gestiegen, wie die Entwicklung des Kunstmarkts bezeugt. Die Forschung zur Kunstwelt der Region steckt aber noch in den Kinderschuhen. Nadia von Maltzahn leitet ein Forschungsprojekt, das das Zusammenspiel vom Entstehungskontext und der künstlerischen Produktion im Libanon untersucht.
Im April 2018 wurde das Buch „Modern Art in the Arab World: Primary Documents“ im Sursock Museum in Beirut vorgestellt. Es führt erstmals eine Reihe von Texten zusammen, die für die Entwicklung der modernen Kunst der arabischen Region eine formative Rolle gespielt haben. Die Freude über diese Zusammentragung von Primärquellen war groß, gab aber auch Anlass, die allgemeine Quellenlage zur Kunst aus der arabischen Welt zu bemängeln. Ein Kommentar aus dem Publikum verbildlichte die wesentliche Problematik diesbezüglich treffend: „Als Architekt ist es für mich so, als würden wir ein Haus bauen und mit den Fenstern beginnen. Uns fehlt der Kontext, in dem diese Texte [zur Kunst aus der arabischen Welt] entstanden sind.“
Herausforderungen für die Forschung zu libanesischer Kunst
Mit dieser „Baustelle“ befasst sich das Forschungsprojekt LAWHA (Arabisch: Gemälde) am OI Beirut. Das Akronym steht für „Lebanon’s Art World at Home and Abroad”. Das Projekt, das vom Europäischen Forschungsrat mit einem Starting Grant gefördert wird, untersucht die Werdegänge von Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken im und aus dem Libanon seit seiner Unabhängigkeit 1943. Ziel ist, neue Methoden zu etablieren, die das Zusammenspiel vom Entstehungskontext und der künstlerischen Produktion untersuchen. Diese können dann zukünftig als Model für den Zugang zur Kunstgeschichte in postkolonialen Kontexten dienen, die häufig durch Abwesenheit einer institutionalisierten lokalen Kunstgeschichtsschreibung geprägt sind.
Das Interesse an Kunst aus der arabischen Welt ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark gestiegen, wie die Entwicklung des Kunstmarkts bezeugt. Gleichzeitig werden die Künstlerinnen und Künstler der Region weiterhin oft klischeehaft dargestellt – sei es absichtlich, um der Agenda der ausstellenden Institution zu dienen, oder schlichtweg aufgrund mangelnder Forschungserkenntnisse. Dieses Defizit in der Forschung setzt sich in der Reproduktion gleichermaßen mangelhafter Erkenntnisse fort, ohne ihre Gültigkeit zu hinterfragen. Primärquellen existieren durchaus, aber müssen hauptsächlich in privaten und nur zum Teil in öffentlichen Sammlungen aufgespürt und zusammengetragen werden. In Zusammenarbeit mit Institutionen vor Ort im Libanon hat sich LAWHA dieser Aufgabe verschrieben. Über eine digitale Datenbank und Plattform (DDP) wird ein Open-Access-Repository und damit ein Instrument für die zukünftige Forschung zur Kunst und für den Erhalt des libanesischen Kulturerbes geschaffen. Dieses Instrument ermöglicht uns, Muster und Netzwerke nachzuzeichnen und Fragen zu beantworten, wie sich Diskurse, Ideen, Mobilität, Begegnungen und das gesellschaftspolitische Umfeld auf künstlerische Produktion auswirken. Die DDP wird in Zusammenarbeit mit dem Digital Humanities Advanced Research Centre (DH.Arc) der Universität Bologna entwickelt und vom Venice Centre for Digital and Public Humanities (VeDPH) der Ca’Foscari Universität Venedig gehostet.
Die Auswirkungen von Migration und Mobilität auf die Kunstwelt
Über meine Forschung zum Kunstsalon im Libanon ist deutlich geworden, dass zwei Gruppen von Künstlern sehr sichtbar in der Kunstwelt des Libanons sind: (1) Künstlerinnen und (2) Künstlerinnen und Künstler armenischer Herkunft. Ein Anliegen von LAWHA ist es daher zu untersuchen, warum diese beiden Gruppen so gut repräsentiert sind. Neben diesem Schwerpunkt erforscht das Projekt die individuellen Laufbahnen der Künstler und ihrer Werke über drei Achsen: Bildung, Ausstellungen und den Kunstmarkt, sowohl im Libanon – „at home“ – als auch außerhalb – „abroad“.
Im Zentrum der Fragestellung stehen die Werdegänge von Künstlerinnen und Künstler im und aus dem Libanon, insbesondere diejenigen, die Formen der Malerei und der Bildhauerei nutzen. Die Besonderheit der libanesischen Geschichte nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1943 macht es besonders lohnenswert, die Machtverhältnisse zwischen Künstlerinnen und Künstlern und Institutionen im In- und Ausland zu untersuchen. Der Libanon wird oft als eine Nation mit schwachen staatlichen Institutionen, aber einem lebhaften Kultursektor dargestellt. LAWHA erforscht (1) die Kräfte, die die Entstehung der Kunst als professionelles Feld geformt haben, (2) wie die Auswirkungen des politischen, sozialen und ökonomischen Umfelds auf die Kunstwelt und ihre Protagonisten überdacht werden müssen vor dem Hintergrund, dass der Libanon oft durch seine Erfahrung von Gewalt und Konflikt definiert wird, und (3) wie Künstlerinnen und Künstler im Verhältnis zur Nation repräsentiert werden und sich selbst identifizieren.
Beirut galt lange Zeit als Kulturhauptstadt der arabischen Region. Stark vernetzt mit regionalen und internationalen Arenen, gab und gibt es viel Zirkulation und Mobilität in den und aus dem Libanon. LAWHA strebt an, die Auswirkung von Krieg und Migration auf die künstlerische Produktion eines Landes neu zu bewerten. Das Projekt untersucht zum einen, wie sich kulturelle Infrastrukturen während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) entwickelt haben. Zum anderen erforschen die Projektmitglieder die Hintergründe und Motivationen für Migration, sowie die fortbestehenden Beziehungen der Künstlerinnen und Künstler zum Libanon.
Die Dezentrierung des globalen Kanons kultureller Produktion, Fragen nach Mobilität und Repräsentation sind heute relevanter denn je, in einer Zeit, in der Museen weltweit ihre Sammlungen überdenken und kulturelle und intellektuelle Ungleichheiten hervorgehoben werden. Hierzu möchte LAWHA einen Beitrag leisten. Ein paar Häuser werden gebaut, aber es gibt noch viel Platz.
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