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Geschichte der deutschen Strafrechtsreform, 1870-1945

Dr. Richard F. Wetzell

Die strafrechtliche Ahndung von Straftaten, aber auch geeignete Präventionsmaßnahmen gegen Kriminalität sind immer wieder Gegenstand nationaler und internationaler Debatten. In Deutschland entstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Strafrechtsreformbewegung, die grundlegende Veränderungen in der deutschen Strafjustiz anstrebte. Richard F. Wetzell vom Deutschen Historischen Institut Washington befasst sich in seiner Forschung mit der historischen Entwicklung dieser Bewegung.


Mein Forschungsprojekt analysiert die Geschichte der Strafrechtsreform in Deutschland vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Ende des Nationalsozialismus; in einem Epilog wird die weitere Entwicklung der Strafrechtsreform in der BRD und DDR bis zum Jahr 1970 verfolgt.

Die um 1880 vom Strafrechtsprofessor Franz von Liszt begründete deutsche Strafrechtsreformbewegung zielte darauf ab, die Strafjustiz in zweierlei Hinsicht zu transformieren. Zum einen sollte der Hauptzweck der Strafe nicht mehr in der Vergeltung für die begangene Tat bestehen, sondern im Schutz der Gesellschaft durch Verhütung zukünftiger Straftaten. Deshalb forderten die Reformer, dass sich die Strafe nicht mehr nach der Schwere der begangenen Tat, sondern nach der Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin richten solle. Zum anderen zog diese Neuausrichtung eine zweite Transformation nach sich: Das im 19. Jahrhundert geschaffene Strafsystem, das das Strafmaß in Form von Gefängnis- und Zuchthausstrafen von der Schwere der Tat abhängig machte, sollte durch ein Spektrum von individualisierten „Maßnahmen“ ersetzt werden. Der Zweck dieser Maßnahmen bestand darin, individuelle Straftäter und Straftäterinnen von zukünftigen Straftaten abzuhalten - sei es durch Abschreckung, Besserung, Verwahrung auf unbestimmte Zeit, medizinische Behandlung oder Erziehungs- und Fürsorgemaßnahmen.

Drei Themen sind von zentraler Bedeutung für mein Projekt: die Infragestellung der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die zunehmende Angleichung der Strafsanktion an außer-strafrechtliche Maßnahmen und die politische Ambivalenz der Reformen.

Die Frage der individuellen strafrechtlichen Verantwortung

Die von den Strafrechtsreformern vorangetriebene wissenschaftliche Erforschung der Ursachen der Kriminalität förderte deterministische Denkweisen, die den Begriff der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit infrage stellten. Wenn strafbare Handlungen durch Anlagen und Umwelt des Täters oder der Täterin determiniert waren, wie konnte man dann den Täter moralisch und rechtlich für seine Taten verantwortlich machen? Die Strafrechtsreformer fanden sich daher mit einem Dilemma konfrontiert. Um die Effektivität strafrechtlicher Sanktionen zu verbessern, mussten sie die Ursachen der Kriminalität verstehen. Aber die wissenschaftlichen Erklärungen der Kriminalität unterminierten die Begriffe der Willensfreiheit und der individuellen strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit, auf denen das Gebäude des klassischen Strafrechts fußte. Mein Projekt untersucht, wie die Strafrechtsreformbewegung mit diesem Dilemma umging und welche Kompromisse sie einging, um die deterministischen Implikationen wissenschaftlicher Erklärungen für Kriminalität mit dem Begriff der Zurechnungsfähigkeit und dem Prinzip individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Einklang zu bringen.

Angleichung der Strafsanktion an außer-strafrechtliche Maßnahmen

Da die Reformer beabsichtigten, die Vergeltungsfunktion der Strafe durch eine reine Schutzfunktion zu ersetzen, strebten sie danach, das „Strafübel“ als solches aus der Strafe zu entfernen und die Strafe mit anderen Inhalten zu füllen. Das Strafensystem der Reformer reduzierte den Anwendungsbereich der Gefängnisstrafe und führte eine Reihe von individualisierten Maßnahmen ein, die die Strafe außer-strafrechtlichen staatlichen Maßnahmen ähnlich machten: medizinische Behandlung (für „geistig minderwertige“ Personen), Fürsorgeerziehung (für jugendliche Straftäter und Straftäterinnen) und zeitlich unbestimmte Nachhaft in Arbeitshäusern oder Sicherungsverwahrung (für „unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher“). Aufgrund dieser Verschränkungen schenkt mein Projekt den sich wandelnden Beziehungen der Strafjustiz zu Medizin, Jugendfürsorge und zu anderen polizeilich-sozialstaatlichen Verwaltungsmaßnahmen (wie Arbeitshaus, Verwahrung, Gerichtshilfe) besondere Beachtung.

Die politische Ambivalenz der Strafrechtsreformen

Die Bemühungen der Strafrechtsreformer, das im 19. Jahrhundert eingeführte System bestimmter Gefängnisstrafen mit individualisierten Schutzmaßnahmen zu ersetzen, hatten widersprüchliche politische Implikationen. Einerseits war die Einführung individualisierter Maßnahmen durchaus darauf ausgerichtet, die Strafjustiz vom Schematismus des Abschreckungskalküls und des Vergeltungsgedankens zu befreien. Indem die Reformer die Strafe von einer Vergeltungsstrafe in eine Maßnahme zum Schutz der Gesellschaft umwandelten, förderten sie teilweise eine Humanisierung des Strafrechts (so z. B. Erziehung statt Strafe für Jugendliche und Aussetzung der Strafe auf Bewährung für bestimmte Ersttäter und Ersttäterinnen). Andererseits barg die neue Auffassung vom Strafrecht aber auch ernste politische Gefahren. Denn wenn die Strafe eines Täters oder einer Täterin weder durch das Äquivalenzprinzip der Vergeltung noch durch ein System gesetzlich bestimmter Strafen begrenzt wurde, waren der einzelne Straftäter bzw. die einzelne Straftäterin den potentiell unbegrenzten Schutzbedürfnissen der Gesellschaft ausgeliefert (wie im Falle der Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit für unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher und Gewohnheitsverbrecherinnen).

Gerade wegen der politischen Ambivalenz der Strafrechtsreformbestrebungen, die sich nicht einfach als „fortschrittlich“ oder „konservativ“ einordnen lassen, bietet eine Geschichte der Strafrechtsreform unter sehr verschiedenen politischen System – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die Zeit des Nationalsozialismus – eine interessante Perspektive auf die deutsche Rechts- und Politikgeschichte von 1870 bis 1945. Da die führenden Köpfe der Reformbewegung vor 1933 Liberale waren, untersucht das Projekt auch, inwieweit die Strafrechtsreform mit Veränderungen innerhalb des deutschen Liberalismus verbunden war.

Gefahr für den Rechtsstaat oder „Verweichlichung“ der Strafjustiz?

Die politische Ambivalenz des Strafrechtsreformprogramms erklärt auch, warum die Forderungen der Reformer auf Kritik aus entgegengesetzten politischen Richtungen stießen. Einerseits warnten Kritikerinnen und Kritiker, die sich auf die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit konzentrierten, davor, dass ein Strafensystem von individualisierten und unbestimmten Schutzmaßnahmen der Wiedereinführung des willkürlichen Polizeistaates gleichkomme, dem der oder die Einzelne schutzlos ausgeliefert sein würde. Andererseits bezichtigten konservativ ausgerichtete und auf „Recht und Ordnung“ fokussierte Kritikerinnen und Kritiker die Strafrechtsreformer der „Humanitätsduselei“ und warfen ihnen vor, durch ihre Abkehr vom Vergeltungsprinzip das moralische Fundament der Strafjustiz zu untergraben und für eine „Verweichlichung des Strafrechts“ verantwortlich zu sein.

Strafrechtsreform unter verschiedenen politischen Regimen

Obwohl die Kritik aus beiden Richtungen die Reformer zwang, Kompromisse mit dem Vergeltungsstrafrecht und dem System gesetzlich bestimmter Strafen einzugehen, wurden viele der Reformvorschläge von der juristischen Fachwelt akzeptiert und in die (seit 1906) von offiziellen Reformkommissionen ausgearbeiteten Entwürfe für ein neues Strafgesetzbuch des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der NS-Diktatur aufgenommen. Während die bis zum Jahr 1939 verfolgte Gesamtreform des Strafrechts letztlich scheiterte, wurden wichtige Teile des Reformprogramms auf dem Verwaltungsweg und durch Strafrechtsnovellen in das geltende Recht aufgenommen.

Nationalsozialistisch gesinnte Juristen nahmen eine zwiespältige Haltung zur Strafrechtsreform ein. Einerseits attackierten sie die Strafrechtsreformbewegung als „liberalistisch“ und „individualistisch“ und gaben ihr die Schuld an der angeblichen „Verweichlichung“ der Strafrechtspflege in der Weimarer Republik. Andererseits war den Nationalsozialisten eine Wendung vom klassischen „Tatstrafrecht“ zu einem „Täterstrafrecht“, in dem sich die Strafe nach der Gefährlichkeit des Täters richtete, willkommen. Die erste große Strafrechtsnovelle des Nazi-Regimes, das Gewohnheitsverbrechergesetz vom November 1933, realisierte langjährige Forderungen der Strafrechtsreformbewegung.

Diese Zwiespältigkeit rührte daher, dass das Nazi-Regime zum Zeitpunkt der Machtergreifung auf keine einheitliche „nationalsozialistische“ Strafrechtskonzeption oder Kriminalpolitik zurückgreifen konnte. Es gehört zu den Zielen des Projekts, die verschiedenen Versuche, eine neue „nationalsozialistische“ Strafrechtspolitik zu entwickeln, nachzuzeichnen und das Widerspiel dieser Versuche mit älteren Strafrechtskonzeptionen (der Strafrechtsreformer sowie der Vergeltungstheoretiker) zu analysieren. So erscheinen wichtige Aspekte nationalsozialistischer Kriminalpolitik weder als NS-spezifische „Perversionen der Strafjustiz“ noch als Symptome eines längeren deutschen Sonderwegs, sondern als extreme Manifestationen politischer Gefahren, die dem politisch ambivalenten Reformprogramm einer internationalen Strafrechtsreformbewegung innewohnten.

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