Wie wurden im Europa der Frühen Neuzeit diplomatische Informationen gewonnen, übermittelt und verbreitet? Elisabeth Lobenwein vom Deutschen Historischen Institut Rom wirft in ihrer Studie einen Blick auf Wien, Venedig und Rom als frühneuzeitliche Informationszentren über das Osmanische Reich und beleuchtet, wie die von verschiedenen Akteuren im Osmanischen Reich gewonnenen Informationen politisch genutzt und medial verarbeitet wurden.
Zielsetzungen des Forschungsprojektes
Meine Studie untersucht Wien, Venedig und Rom in ihrer Funktion als frühneuzeitliche Informationszentren über das Osmanische Reich in vergleichender Perspektive. Dabei gehe ich der Frage nach, wie habsburgische und venezianische diplomatische Vertreter[1] im Osmanischen Reich operierten, um für den kaiserlichen Hof in Wien bzw. den für Außenbeziehungen zuständigen Senat in Venedig exklusives Wissen zu generieren. Ich untersuche, wie diese Informationen in Wien und Venedig politisch genutzt und medial verarbeitet wurden. Zudem ist von Interesse, wie der Papst, der keine diplomatischen Verbindungen zum Osmanischen Reich pflegte, an Informationen über die Osmanen gelangte. Hierbei spielten nicht nur die in Wien und Venedig stationierten päpstlichen Gesandten (Nuntien), sondern auch die im Osmanischen Reich agierenden katholischen Orden eine wichtige Rolle. Der Arbeit liegt die These zugrunde, dass es essenziell ist, die Vielzahl der an der Erzeugung und Verarbeitung von Informationen beteiligten Akteure gemeinsam mit den entsprechenden Kommunikationsmedien zu untersuchen. Diese beiden Faktoren formten und prägten nicht nur Prozesse der Entscheidungsfindung, sondern ganze Diskurse über die Osmanen in Europa.
Der zeitliche Fokus der Untersuchung liegt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, konkret zwischen 1664, dem Abschluss des Friedens von Eisenburg/Vasvár, und 1684, der Gründung der letzten Heiligen Liga, einem Bündnis zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Polen-Litauen, Venedig und dem Kirchenstaat, das durch die Vermittlung von Papst Innozenz XI. zustande kam. Mein Projekt schließt an neuere Forschungen an, die weniger die verschiedenen „Türkenkriege“, sondern vielmehr die Friedensphasen bzw. die Bemühungen um Friedenssicherung in den Blick nehmen und die vielfältigen Verflechtungen zwischen Osmanen und Europäern, vor allem in ökonomischer, politischer und sozialer Hinsicht, thematisieren.
Das Sammeln von Informationen
Zu den zentralen Aufgaben frühneuzeitlicher Diplomaten zählte bekanntlich die „Trias“ aus Repräsentieren, Verhandeln und Informationen sammeln. Das Sammeln von Informationen gewann mit der Etablierung ständiger Gesandtschaften im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit stärker an Bedeutung. Die Gesandten spielten somit bei der Erzeugung und Zirkulation von Wissensbeständen eine wichtige Rolle. Sie waren bei der Erfüllung ihrer Dienstpflicht, möglichst viele gesicherte – im Idealfall auch geheime – Informationen über alle Vorgänge im Gastland zu übermitteln, auf die Zuarbeit einer Vielzahl von informellen Akteurinnen und Akteuren angewiesen; dies traf in besonderer Weise auf Gesandte zu, die in interkulturellen Räumen wie dem Osmanischen Reich agierten. Den Übersetzern und Dolmetschern[2], auch Dragomane genannt, wurde in dieser interkulturellen Umgebung eine besondere Rolle zuteil. Sie waren nicht nur in osmanischen staatlichen Institutionen omnipräsent, sondern wurden auch von Gesandten, Handeltreibenden oder Konsulen vielfach eingesetzt. Abgesehen von ihren Sprachvermittlungstätigkeiten lag ihr vorrangiges Einsatzgebiet in der Akquise und Zirkulation von Informationen, sie waren gewissermaßen „Vermittler“ zeitgenössischer Wissensbestände und Debatten über die Osmanen und arbeiteten sehr eng mit europäischen Gesandten zusammen.
Der Dragoman Marco Antonio Mamuca della Torre (1635–1712)
Im Untersuchungszeitraum sticht insbesondere der Dragoman Marco Antonio Mamuca della Torre (1635–1712) hervor, dessen abenteuerlicher Lebensweg im Forschungsprojekt näher untersucht wird. Im Jahr 1635 in Pera in Konstantinopel geboren, katholisch erzogen und äußerst sprachenbegabt, trat er in den 1650er Jahren in kaiserliche Dienste und erhielt im Jahr 1656 den Titel „interprete“ verliehen. Allerdings war er parallel auch für andere europäische Mächte, die zum Osmanischen Reich Verbindungen pflegten, als Übersetzer und Informant tätig (unter anderem für Holländer, Florentiner, Polen und Venezianer) und unterhielt enge Kontakte zu den Botschaftern und Konsuln Englands. Wenngleich er Ende der 1660er Jahre durch verschiedene Fehltritte wie die Verwicklung in Raufhändel oder Streitigkeiten mit konkurrierenden Dragomanen zeitweise zu einer persona non grata geworden war, arbeitete er sich sukzessive zu einem der wichtigsten Informanten der kaiserlichen Gesandten in Konstantinopel empor. Marc Antonio schilderte des Öfteren Audienzen, zu denen er als Dragomane hinzugezogen worden war, oder Gespräche mit osmanischen Würdenträgern.
Die Beschreibungen, die die kaiserlichen Gesandten in ihre Relationen übertrugen, sind ausführlich, gespickt mit vielen Details und meistens mit dem Hinweis versehen, dass Marc Antonio um Geheimhaltung der übermittelten Informationen bat. Durch seine Heirat im Jahr 1673 mit Giustiniana Tarsia, Tochter des bekannten venezianischen Dragomanen Christoforo Tarsia, baute er seinen Status und sein Informationsnetzwerk weiter aus. Die Hochzeit des „dragoman power couple“ des Jahrhunderts (Natalie Rothman) fand im Tagebuch des Antoine Galland, der unter anderem für seine erstmalige Übersetzung der Märchen „1001 Nacht“ ins Französische bekannt ist, ausführlich Erwähnung. In den 1680er Jahren wechselte Marco Antonio schließlich nach Wien, war dort als Hofdolmetscher tätig und erhielt für seine Verdienste Ehrungen und Titel.
Das Verschriftlichen von Informationen
Hatten Informanten wie der Dragoman Marc Antonio Mamuca della Torre an die Gesandten neue Informationen herangetragen, mussten diese verschriftlicht und an den Heimathof übermittelt werden. Die reichhaltigsten und facettenreichsten Quellen zu den frühneuzeitlichen Osmanen sind sicherlich die diplomatischen Berichte aus Konstantinopel. Bei der Auseinandersetzung mit Gesandtschaftsberichten gilt es besonders zu berücksichtigen, dass diese nicht einfach als „Abbild“ der Situation vor Ort im Osmanischen Reich zu betrachten sind, sondern vielmehr wollten die Gesandten bestimmte Wirkungen bei der Leserschaft ihrer Berichte erzielen. So ging es beispielsweise darum, sich als treue Diener zu inszenieren, eigenes Handeln zu legitimieren oder Alteritätserfahrungen zu verbalisieren.
Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung
Nach Ankunft der Gesandtschaftsberichte an ihrem Bestimmungsort in Wien oder Venedig wurden verschiedene Praktiken der Informationsverarbeitung angewandt (Dechiffrieren, Zusammenfassen, Kopieren, Exzerpieren, Weiterleiten etc.). Die Informationen wurden auch mit Verbündeten geteilt, so zum Beispiel mit den päpstlichen Nuntien in Wien und Venedig, die entsprechend relevante Informationen nach Rom übermittelten. Die Informationen dienten schließlich als „Ressource“ des Entscheidens; durch sie wurden Entscheidungen generiert oder bereits getroffene Entscheidungen nachträglich legitimiert. Viele Informationen wurden aus Gründen der Absicherung weitergesammelt, ohne im Moment für Entscheidungen relevant zu sein. Die Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen ist quellenmäßig häufig schwierig zu fassen und wird im Projekt beispielhaft am Zustandekommen der Heiligen Liga (1684) untersucht. Ich gehe der Frage nach, ob die im Laufe der Jahre gesammelten Informationen eine Relevanz für das Zustandekommen der Heiligen Liga hatten und ob die vorher gesammelten und ausgetauschten Informationen zu einem späteren Zeitpunkt zur Rationalisierung und Legitimierung des Bündnisses herangezogen wurden.
[1] Da es sich bei den frühneuzeitlichen Diplomaten ausschließlich um männliche Personen handelte, wird in diesem Artikel die männliche Form verwendet.
[2] Auch hier handelte es sich ausschließlich um männliche Personen.
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