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Indigene Ökologien: Naturwissenschaften und die Politik der Stammesrepräsentation in Südasien (circa 1900-1990)

Dr. Sujeet George

Die Geschichte der europäischen Expansionsreisen und die Entwicklung der Biowissenschaften sind zu einem zentralen Bestandteil der Geschichte Europas, des Kolonialismus und der modernen Welt geworden. In seinem Forschungsprojekt untersucht Sujeet George vom Max Weber Forum für Südasienstudien in Delhi die miteinander verknüpften Geschichten des weitverbreiteten Transfers von Pflanzenexemplaren, die Entstehung von globalem ökologischem Wissen und die Entwicklung der Idee der Indigenität im Südasien des 20. Jahrhunderts.


Kartierung der Biogeographie

In den letzten Jahren wurden umfangreiche naturkundliche Sammlungen, insbesondere in Europa und Nordamerika, digitalisiert. Diese Sammlungen liefern eine Fülle von evolutionären und physiologischen Daten, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern genutzt werden, um die Anpassung und Diversifizierung von Arten sowie deren Ursprung und Verbreitung zu verstehen. Ein Aspekt meines Forschungsprojektes Indigenous Ecologies konzentriert sich auf Sammlungen, die Botaniker[1] zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts vom indischen Subkontinent an die Royal Botanic Gardens, Kew (Kew Gardens) in London übermittelten. Durch die Katalogisierung der Exemplare innerhalb einer solchen Sammlung wird es möglich sein, die Arten von Exemplaren zu kartographieren, die von verschiedenen Botanikern beigebracht wurden, sowie den geografischen Bereich zu erfassen, in dem diese verschiedenen Exemplare gesammelt wurden.

Die Bedeutung der Herbarien als Ort florierenden wissenschaftlichen Fachwissens wurde durch die Entwicklung eines neuen Fachbereichs, der als „Pflanzenhumanwissenschaften“ (engl. Plant Humanities) bekannt ist, neu definiert. Die Pflanzenhumanwissenschaften betonen die vorteilhaften Möglichkeiten, die sich aus der Kombination von naturwissenschaftlichen Methoden mit geschichtswissenschaftlichen Methoden bei der Arbeit mit Herbarien ergeben können. Aufbauend auf den Erkenntnissen dieses im Entstehen begriffenen transdisziplinären Fachbereichs wird mein Projekt die Rolle der Herbarien der Kew Gardens untersuchen. Sie waren Teil eines umfassenderen Kreislaufes, in dem botanisches Wissen – über den Transport von Pflanzen und Personal – zwischen europäischen Standorten und verschiedenen Empire-Außenposten verbreitet wurde.

Die Internationalisierung der Umwelt und ihrer ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner

In der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wuchs die Besorgnis über die schädlichen Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Natur sowie das Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Welt als ein einheitliches, zusammenhängendes System zu begreifen. Die Furcht vor einer drohenden ökologischen Krise schien die Phantasie von Menschen auf der ganzen Welt anzuregen und veranlasste diese, über die Gestaltung der Zukunft unter Berücksichtigung globaler Entwicklungen nachzudenken. Der Aufschwung von Umweltbewegungen, die Gründung internationaler Organisationen und die Vorstellung von einer Welt unter Berücksichtigung ihrer globalen Zusammenhänge lassen sich als prägende Merkmale dieser Zeit betrachten.

Die zunehmende Besorgnis über die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt führte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu Bemühungen, eine Zusammenarbeit sowohl zwischen einzelnen Nationalstaaten als auch jenseits der nationalstaatlichen Ebene zu organisieren. Die Frage der Umweltpolitik war in dieser Periode eine durchweg internationalistische. Neben dieser sich entwickelnden Idee der internationalen Zusammenarbeit entstanden eine Rhetorik und politische Bewegungen, in denen die Besorgnis über die Entrechtung und Marginalisierung indigener Gemeinschaften innerhalb zahlreicher Nationalstaaten zum Ausdruck gebracht wurde.

Im Hinblick auf Indien war die Artikulation von Indigenität ein schwieriges Unterfangen, das sich gegen die staatlich geförderte Zielsetzung der nationalen Integration richtete. In den 1960er und 1970er Jahren wurden auf nationaler Ebene Anstrengungen unternommen, um einen politischen Rahmen zum Schutz der Biota des Landes zu entwickeln. Gleichzeitig bemühte sich der indische Staat um die Einrichtung von Nationalparks und verordnete Schutzzonen zum Erhalt seiner Ökosysteme.

Der Diskurs über den Erhalt der biologischen Vielfalt wurde von Anfang an in einer Sprache geführt, die auf den Erhalt des ökologischen Erbes abzielte. Die Rhetorik der Erhaltung der biologischen Vielfalt betonte außerdem, dass die ökologischen Auswirkungen extraktiver Praktiken in erste Linie für die indigene Bevölkerung spürbar sind. Die Rhetorik folgte ebenso paternalistischen Mustern, indem über sie versucht wurde, unter dem Deckmantel der Umweltpolitik bisher nicht kartographisch erfasste Gebiete und ihre Bewohnerinnen und Bewohner in die Mainstream-Gesellschaft einzubinden.

Die Durchsetzung der Rechte indigener Völker im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit, die mit ähnlich marginalisierten Gruppen anderer souveräner Nationen erfolgte, war ein schwieriges Unterfangen, da die Nationalstaaten im Zuge der Dekolonisierung versuchten, eine einheitliche Identität unter den verschiedenen Gemeinschaften innerhalb ihrer staatlichen Grenzen zu schaffen. Darüber hinaus wurden Indigenitätsansprüche oft in einer Sprache geäußert, die der Sprache von Anthropologinnen und Anthropologen glich – ein Paradoxon, wenn man die kolonialen Ursprünge der anthropologischen Disziplin bedenkt. In den letzten Jahrzehnten wurde die auf die Bewahrung von Pflanzenvielfalt abzielende Rhetorik vor allem von Nichtregierungsorganisationen mit Nachdruck vertreten. Diese nichtstaatlichen Akteure haben auf die Gefahren des Eigentums an der Nutzung von Saatgut hingewiesen, das von privaten agrotechnischen Konzernen übernommen wurde. Der Kampf gegen diese Übernahme durch Agrarkonzerne hat die Bedeutung der kommunitären Saatgutsouveränität als eine Form des historischen Gedächtnisses hervorgehoben, in dem verschiedene Kultivierungstugenden zutage treten.

Wissenschaftspraxis und Public History

Botanische Gärten und Herbarien stellen wichtige Referenzpunkte dar, um Fragen der Sammlungsverwaltung und des digitalen „Nachlebens“ von Objekten und Pflanzenexemplaren sowie die Frage der Einbindung der Öffentlichkeit in diese historisch-wissenschaftlichen Debatten zu erörtern.

Als dynamische Datenquellen, die gleichzeitig aktualisiert und historisch analysiert werden, sind Herbarien auch ein wichtiger Bezugspunkt für die Betrachtung einer Wissenschaft „im Entstehen“. Mein Projekt Indigenous Ecologies zielt darauf ab, Kanäle für einen dreiseitig ausgerichteten Dialog zwischen den Geisteswissenschaften, den botanischen Wissenschaften und der Public History zu eröffnen, indem es die Art und Weise untersucht, wie Pflanzenexemplare und Sammlungen in einem wissenschaftlichen und öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmen verortet und diskutiert werden. Dies ist besonders wichtig angesichts der gegenwärtigen Forderungen nach einer Dekolonialisierung von Museen und naturhistorischen Sammlungen. Das Projekt versucht anhand der Analyse von Herbarien, die gegenwärtigen Debatten um den Zugang zu Sammlungen und die Frage, wie die Öffentlichkeit in diese eingebunden werden kann, aufzugreifen und so die Bedeutung der Herbarien als relevanter Untersuchungsgegenstand innerhalb dieser Debatten zu untermauern.


[1] Hier handelt es sich ausschließlich um männliche Personen.

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