Alltag, Arbeit oder Reisen sind heute ohne ein funktionierendes Streckennetz aus Fluglinien kaum mehr vorstellbar. Die Grundlagen der heutigen globalen Vernetzungen entstanden schon vor dem Zweiten Weltkrieg – in einer Zeit, in der Imperien, Nationalregierungen und große Airlines die Flugwege bestimmten. Andreas Greiner untersucht Verflechtungen von Fluggesellschaften in der Zwischenkriegszeit, die von Kooperation und Rivalität zugleich geprägt waren. Sein Forschungsprojekt wirft somit einen Blick über den Tellerrand der Infrastrukturgeschichte hinaus.
Ein Flug zwischen zwei Kontinenten, eine warme Mahlzeit an Bord, dann ein getakteter Umstieg auf die Maschine einer anderen Airline, automatischer Gepäcktransfer inklusive – vieles von dem, was für uns heute selbstverständlicher Bestandteil von Fernreisen ist, gehörte schon in den 1930er Jahren zum Repertoire der zivilen Luftfahrt. Auch wenn die Gruppe der Reisenden damals noch sehr klein war, arbeiteten Fluggesellschaften wie Air France oder Luft Hansa bereits in der Zwischenkriegszeit akribisch am Aufbau interkontinentaler Flugverbindungen. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs existierte ein weltweites Streckennetz von 400.000 Kilometern. Der legendäre Flug der Gebrüder Wright – 37 Meter mit dem ersten motorisierten Flugzeug – war da noch keine vierzig Jahre her.
Vernetzung und Verkehrswege
In meinem Forschungsprojekt beschäftige ich mich mit der Geschichte des globalen Luftverkehrs zwischen den späten 1920er Jahren und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In dieser Zeit waren es vor allem imperiale Staaten, welche das neue Transportmittel nutzten, um ihre Überseekolonien anzubinden und so deren Verwaltung zu erleichtern. Seit 1929 bot etwa die Airline KLM im staatlichen Auftrag Linienflüge zwischen Amsterdam und der Kolonie Niederländisch-Indien an, dem heutigen Indonesien. Zeitgleich erschloss die britische Fluggesellschaft Imperial Airways Routen von England nach Indien und Südafrika. Weil die Flugzeugtechnik noch nicht ausgereift war, mussten die Maschinen dabei viele Zwischenstopps einlegen. London–Kapstadt wurde beispielweise in über 30 Etappen bewerkstelligt. Von Nordamerika aus etablierte Pan American Airways unter anderem Routen nach Lateinamerika sowie über den Atlantik und Pazifik und schuf so direkte Verbindungen zwischen den USA und ihren Überseeterritorien, etwa den Philippinen.
Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit den genannten Fluggesellschaften auseinandergesetzt. Meist geschah dies jedoch mit einem Fokus auf eine einzelne Airline. Allerdings lässt sich die Entstehung des globalen Luftfahrtsystems nur begreifen, wenn man die großen Airlines dieser Zeit gemeinsam in den Blick nimmt. Ihre Interaktionen waren nämlich maßgeblich für die Entstehung des weltweiten Streckennetzes. Dabei gab es nicht nur wirtschaftliche und politische Konkurrenz, sondern auch Vorläufer des Codesharing und aufeinander abgestimmte Flugpläne, sodass manche Routen schon damals über Firmengrenzen hinweg miteinander verknüpft waren.
Kooperation und Konkurrenz
Die Verflechtungen dieser Fluggesellschaften spürt mein Forschungsprojekt auf. Es taucht dabei in eine Epoche ein, die von gegenläufigen Tendenzen geprägt war: Einerseits organisierten sich Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt in internationalen Foren, vor allem dem Völkerbund, dem Vorläufer der UNO. Andererseits stiegen in dieser Zeit die politischen Spannungen. Staaten wie Deutschland und Japan, aber auch Italien, befeuerten Feindschaften zwischen den Nationen. Beide Tendenzen beeinflussten die Entwicklung der zivilen Luftfahrt, wodurch in diesem Bereich Kooperation und Konkurrenz oft nebeneinander existierten. In Genf überlegte der Völkerbund Anfang der 1930er Jahre, eine supranationale Airline zu gründen, um Ländergrenzen einfacher zu überwinden. Gleichzeitig nutzten verschiedene Nationalregierungen Überflugrechte als Verhandlungsmasse. Italien etwa verweigerte britischen Maschinen nach Südafrika und Indien lange den Durchflug, sodass deren Passagiere in der Schweiz auf Züge umsteigen mussten. Die Airline Imperial Airways durfte erst in Italien landen, als sie einwilligte, auf dem Weg nach Kapstadt auch die italienischen Kolonien in Ostafrika anzusteuern.
Die Fluggesellschaften standen – ähnlich wie die sie unterstützenden Staaten – in einem Wechselverhältnis von Kooperation und Konkurrenz. Die britische Imperial Airways und ihr italienisches Pendant waren ebenso wie Luft Hansa, Air France und fast alle weiteren großen Gesellschaften im Interessenverband International Air Traffic Association organisiert. Dessen Mitglieder traten nicht nur im eigenen Land als Ticketverkäufer der Partnerfirmen auf, sondern entwarfen auch gemeinsam Standards für Sicherheit und Flugdurchführung.
Insbesondere im Kleinen arbeiteten die Airlines oft Hand in Hand: An Flughäfen außerhalb Europas und Nordamerikas, wo Benzin- und Ersatzteilbeschaffungen oft schwierig waren, teilten sie sich Werkstätten und Betriebsmittel. Nimmt man diese Flughäfen näher in den Blick, zeigen sich aber auch hier Rivalitäten. So arbeiteten Imperial Airways und die US-Fluggesellschaft Pan American Airways lange gemeinsam an einer regelmäßigen Transatlantikverbindung und eröffneten 1937 deren erste Teilstrecke zwischen Baltimore und der britischen Kolonie Bermuda. Je zweimal wöchentlich bedienten beide Airlines fortan abwechselnd die Atlantikinsel. Doch die Passagierzahlen waren damals noch so gering, dass die Fluggesellschaften vor Ort um jeden Sitz kämpften: die Amerikaner beklagten sich schon bald darüber, dass die Briten Reisende abfingen und mit Rabattangeboten für eine Umbuchung auf die eigenen Flugzeuge warben.
Entwicklungsprozesse und Erkenntnisgewinn
Die genannten Beispiele belegen, dass die Geschichte der zivilen Luftfahrt mehr ist als bloß die Summe an Firmengeschichten einzelner Airlines. Vielmehr war die infrastrukturelle Verflechtung des Globus zwischen ca. 1925 und 1945 ein Resultat der vielschichtigen Verflechtungen eben dieser Airlines. Dass die Zusammenarbeit dabei nicht immer die weltpolitische Lage widerspiegelte, zeigt sich etwa in Lateinamerika, wo europäische Fluggesellschaften dem Platzhirschen Pan American Airways Konkurrenz machten. Das US-Außenministerium witterte dabei gar eine „Achse Berlin-Rom-Paris“ – und das im Mai 1939, wenige Monate vor Kriegsausbruch. Angesichts solcher Befunde liefert meine Untersuchung transnationaler und globaler Vernetzungs- und Abgrenzungsprozesse auch Erkenntnisse über die konkrete Infrastrukturgeschichte hinaus: Die Auseinandersetzung mit der Entstehung des weltweiten Flugverkehrs erlaubt einen ganz neuen Blick auf die komplexen, oft widersprüchlichen Globalisierungsprozesse zwischen den beiden Weltkriegen.
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