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Schatten von Prag: Die verborgenen Welten sozialistischer Städte

Außenstelle Prag
Dr. Jaromír Mrňka

Sozialistische Städte galten einst als Experimentierfelder für eine utopische Gesellschaft. Doch trotz der Bemühungen sozialistischer Regime und entgegen des ursprünglichen Ziels, gerechte Gesellschaften zu schaffen, wich die Realität häufig pragmatischen Interessen. Im Namen der Arbeitenden stand die Verbesserung des Lebensstandards und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Fokus. Die dadurch entstehenden neuen Ungleichheiten untersucht Jaromír Mrňka an der Außenstelle des DHI Warschaus in Prag.


Machtstrukturen und gesellschaftliche Werte, die von Regierungen und öffentlichen Autoritäten geformt werden, spiegeln sich im städtischen Raum wider. Er ist eine Bühne für gesellschaftliche Machtspiele und ein Ort, an dem Macht, Ungleichheit und soziale Dynamik aufeinandertreffen. Die Erforschung des städtischen Raums ermöglicht Einblicke in die Verteilung von Macht, deren Auswirkungen auf das tägliche Leben, die Vielfalt der Gesellschaft und die Identitätsbildung.

Als aktive Gestalter des städtischen Lebens streben wir danach, unsere Lebenswelt an eigenen Bedürfnissen orientiert zu formen und zu nutzen. Dabei stoßen wir oft auf Konflikte mit staatlicher Macht, anstatt den bestehenden Status quo ohne Weiteres zu akzeptieren. Auch in der Vergangenheit traten solche Konflikte in verschiedenen Kontexten auf, auf deren Grundlage wir den zentralen Zusammenhang zwischen Macht und Stadtraum besser verstehen können.

Der städtische Raum des späten Sozialismus

Meine Forschung fokussiert sich auf die städtischen Räume des späten Sozialismus und analysiert, wie machtpolitische Dynamiken sie geprägt haben. Staatliche Akteure verfolgten Entwicklungspläne, während marginalisierte Gruppen oft im Konflikt mit dem Staat standen. Ich untersuche, wie staatliche Macht die Umgebung beeinflusste und wie weniger Mächtige darauf reagierten. Trotz Veränderungsbemühungen blieben Ungleichheiten und machtpolitische Beziehungen präsent in der sozialistischen Gesellschaft.

Die Leitungsebene sozialistischer Gesellschaften erkannte den Widerspruch zwischen Idealen und Realität. Trotz der Gleichheitsrhetorik mussten späte sozialistische Regime soziale Ungleichheiten akzeptieren und sogar unterstützen. Ihre repressiven Maßnahmen zielten darauf ab, Ordnung und Kontrolle aufrechtzuerhalten, oft gegen Abweichungen vom sozialistischen Ideal. Dennoch wurden sie manchmal gezwungen, Grauzonen zu tolerieren, um zumindest teilweise die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen.

Illegaler Devisenhandel in der Prager Unterwelt

In der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag gibt es ein konkretes Beispiel für organisierten illegalen Devisenhandel, der im Zusammenhang mit den Verkaufsstellen des Außenhandelsunternehmens "Tuzex" entstand. Dieses Unternehmen war das tschechoslowakische Pendant zum ostdeutschen "Intershop" und ermöglichte den Bürgerinnen und Bürgern den Kauf von "westlichen" Waren, die in regulären Geschäften nicht erhältlich waren. Allerdings war es für die Menschen in Prag genauso schwierig, an ausländische Währung zu gelangen, wie an diese Waren.

Die hohe Nachfrage nach ausländischen Waren führte zur Entstehung organisierter Schmugglergruppen, bekannt als "veksláci" (abgeleitet vom deutschen „wechseln“), die illegalen Devisenumtausch in den Gassen und Einkaufspassagen von Prag anboten. Ihre Anführerinnen und Anführer knüpften durch Netzwerke mit Hotelrezeptionen, Bars und Taxiunternehmen Kontakte zu wohlhabenden ausländischen Touristinnen und Touristen.

Neben der Täuschung argloser Besucherinnen und Besuchern aus dem Westblock waren sie auch in zweifelhafte Geschäfte und Schmuggel verwickelt, insbesondere in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Hotellobby-Bars, Tanzclubs und Musiklokalen im Stadtzentrum, besonders in der Umgebung des Wenzelsplatzes.

In diesen Räumen trafen sie auf andere Mitglieder der Prager Unterwelt, die in ihre Aktivitäten verwickelt waren. Dazu gehörten beispielsweise Prostituierte, die nicht nur Kunden vermittelten, sondern auch einen Teil ihres Verdienstes in ausländischer Währung verkauften oder abgaben. Es war üblich, dort auch auf Drogenhändlerinnen und -händler oder ihr abhängige Klientel zu treffen. Solche Orte gerieten oft ins Visier der staatlichen Polizei, die sie als kriminell gefährliche Elemente betrachtete.

Ausschluss der Homosexualität aus dem öffentlichen Raum

Durch die Mitglieder der öffentlichen Sicherheit erfolgte eine Klassifizierung von Personen, die häufig widerwillig mit ihnen in Kontakt kamen. Überraschenderweise wurden auch Homosexuelle oft in dieselbe Kategorie eingestuft, obwohl der tschechoslowakische Staat bereits 1961 den Geschlechtsverkehr zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht mehr als strafbar ansah. Dennoch behielt die öffentliche Sicherheit die Befugnis, zu beurteilen, ob das Verhalten von Homosexuellen, das immer noch als krankhaft angesehen wurde, keinen zu großen öffentlichen Anstoß erregte.

Homosexualität passte nicht zum Bild eines anständigen Lebens im Sozialismus und fand daher keinen Platz im städtischen Raum. Die Suche nach Liebe führte diejenigen, die ihre sexuelle Orientierung zuließen, zu öffentlichen Toiletten, Umkleidekabinen in Bädern und versteckten Nachtclubs, fernab der Augen der „anständigen“ sozialistischen Bürgerinnen und Bürger. In dieser erzwungenen Verbannung mischten sich homosexuelle Personen mit anderen Gruppen, die ein Leben im Verborgenen vor der Staatsmacht suchten, und formten gemeinsam die sozialistische Unterwelt.

Sozialistische Städte als Spiegel der machtpolitischen Dynamiken

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der städtische Raum nicht nur ein Ort des Handels und der sozialen Interaktion ist, sondern auch gesellschaftliche Dynamiken und ihre Schattenseiten widerspiegelt. Trotz staatlicher Kontrolle und Repression bildeten sich in den Straßen und Gassen der sozialistischen Städte verschiedene Gruppen, die ein eigenes Leben führten. Der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen schuf ein komplexes Netzwerk, das nicht nur die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger deckte, sondern auch Einblicke in soziale und politische Spannungen jener Zeit gewährte. Homosexuelle Männer und Frauen mussten oft ihre Identität verbergen und sich in die Schatten der urbanen Landschaft zurückziehen, wo sie Teil eines verborgenen sozialen Gefüges wurden, das die Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft verdeutlichte.

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