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Soziologie der Haustiere im heutigen Japan

Dr. Dr. Barbara Holthus

Während der Corona-Pandemie berichteten Medien in den USA, Europa und auch in Japan von einem Ansturm auf Haustiere als (Ersatz-)Familienmitglieder und als Schutz vor Isolation und Einsamkeit. Haustiere erfreuen sich jedoch nicht erst seit dem Beginn der Pandemie, sondern bereits seit einigen Jahrzehnten einer steigenden Beliebtheit in Japan. Ihre Rollen alternieren dabei zwischen Konsum und Unterhaltung, Familienmitglied sowie Gesundheits- und Glücksbringer.


Mehr Haustiere als Kinder

„Japans Geburtenrate fällt auf neues Rekordtief“ – So lauteten die Presse-Schlagzeilen im Frühsommer 2023 auf die frisch veröffentlichten japanischen Bevölkerungszahlen. Im Jahr 2022 wurden knapp 800.000 Kinder geboren, was einer Geburtenrate von 1.26 entspricht – Tendenz seit Jahrzehnten fallend. Seit dem Jahr 1990 versucht Japan (erfolglos), gegen den Rückgang der Geburtenrate anzukämpfen.
Auf der anderen Seite erfreuen sich Haustiere hingegen steigender Beliebtheit in Japan. Im Jahr 2021 wurden nach Zahlen der Japan Pet Food Association 489.000 Katzen und 397.000 Hunde gekauft oder adoptiert, womit die Gesamtzahl von 886.000 pelzigen Familienmitgliedern die Zahl der in dem Jahr geborenen Kinder übertrifft. Insgesamt leben 7 Millionen Hunde und fast 9 Millionen Katzen in japanischen Haushalten, das heißt, 21% der Bevölkerung besitzen Hunde oder Katzen. Kinder machen hingegen nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) einen prozentualen Anteil von nur 11.5% an der japanischen Gesamtbevölkerung aus.

Konsum und Tierschutz

Parallel zu der Beliebtheit und Zunahme von Haustieren in der japanischen Gesellschaft gibt es einen wachsenden Haustiermarkt, der eine Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen anbietet: So umfasst dieser – neben den Tieren – Produkte wie Tierfutter, Hundekörbe und Hunde-“Kinder”wagen, aber auch alle Dienstleistungen wie Friseur- oder Babysitterdienste (sogenannte „Pet Hotels“). Außerdem findet Asiens größte Haustiermesse „Interpets“ jährlich in Japan statt. Haustiercafés, genannt „Pet Cafes“, sind ebenfalls hochbeliebt, in denen nicht nur die üblichen Haustiere wie Hunde, Katzen oder Hasen gestreichelt werden können, sondern auch Wildtiere wie Igel, Eulen (12 „Eulen-Cafés“ gibt es alleine in Tokyo) und Otter.
In Bezug auf den Tierschutz gibt es einige erhebliche Unterschiede zwischen Japan und Deutschland. Während in Deutschland der Verkauf von Tieren stärker reguliert ist, gibt es in Japan nach wie vor Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Verkaufsregulierungen und dem Umgang mit Wildtieren als Haustiere. Der illegale Wildtiermarkt in Japan zählt zu den größten weltweit. So erfreuen sich in den letzten Jahren zum Beispiel Otter, Erdmännchen und Füchse als Haustiere steigender Beliebtheit. Ebenso wird der Besitz von Riesenschildkröten nicht geahndet. Diese Beliebtheit ist ungebrochen, trotz der Gefahr von zoonotischen Infektionskrankheiten, also von Wildtieren ausgelösten Infektionen. Die Risiken dieser Infektionskrankheiten haben wir in der jüngsten Pandemie zu spüren bekommen. Viele Menschen in Japan scheinen jedoch für diese Problematik nicht ausreichend sensibilisiert zu sein. Auch wird die Hälfte aller Hunde in Tierhandlungen gekauft. Vielen Ersthaustierbesitzerinnen und -besitzern ist unbekannt, dass man Haustiere aus einem Tierheim oder einer privaten Organisation adoptieren kann.

Aus Umfragedaten der Japan Pet Food Association geht hervor, dass 20% aller Besitzerinnen und Besitzer ihren Hund ausschließlich im Haus bzw. in der Wohnung halten. Ihr Geschäft verrichten die Hunde drinnen auf einer Art Windeldecke (sheet). Selbst Hunde, die ausgeführt werden, werden zumeist nicht stubenrein erzogen, sondern an das sheet als praktische Alternative gewöhnt.
Insgesamt lässt sich im Vergleich zu Deutschland in der japanischen Bevölkerung ein mangelndes Bewusstsein für Tierrechte, artgerechte Haltung und Artenschutz feststellen, insbesondere im Zusammenhang mit exotischen Tieren. Das japanische Tierschutzgesetz fordert zwar eine „artgerechte“ Haltung von Tieren und strebt eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Tier an. Dabei ist aber das, was als „artgerecht” gilt, kulturell geprägt und anderen gesellschaftlichen Normen unterworfen.
Die Situation für Haustiere verbessert sich jedoch allmählich. Selbst politische Parteien haben in jüngster Zeit den Tierschutz in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Auch die Zahl von Organisationen, die sich für die Rettung von Hunden und Katzen einsetzen, hat stetig zugenommen. Tierschutzgruppen kämpfen vornehmlich gegen die Tötung von Tieren in öffentlichen Tierheimen durch Vergasung und setzen sich für „humanere“ Methoden wie Injektionen ein.

Diversität der Haustierhaltung

Große Unterschiede in der Haustierhaltung finden sich zum Beispiel auf regionaler Ebene, sowohl in Bezug auf die Normen der Haustierhaltung als auch auf das Verständnis des Tierwohles. Japans Urbanisierung schreitet voran und damit einhergehend die Regulierung des öffentlichen urbanen Raums für Haustierhaltung. So dürfen Haustiere nur in einem geschlossenen „Behältnis“ in Bus und Bahn transportiert werden. Tokyo hat ein ausgesprochen gut entwickeltes ÖPNV-Netz und nur wenige Einwohnerinnen und Einwohner ein eigenes Auto. Das heißt, wenn man größere Strecken in der Stadt zurücklegen will mit seinem Tier, gibt es nur die Möglichkeit, dass Passantinnen und Passanten ihr Tier in einem verschließbaren „Kinder“wagen, einem Rucksack oder in einer Tragetasche mit in öffentliche Verkehrsmittel nehmen.

Außerhalb der eigenen vier Wände müssen Haustiere stets angeleint sein; leinenfreie Hundezonen sind dünn gesät. Außerdem ist die Hürde, Hunde leinenfrei in Japan auszuführen, höher als in Deutschland, weil man in Japan (wie zum Beispiel in der Hundezone im großen Yoyogi Park in Tokyo) seine Kontaktinformationen angeben und unterschreiben muss, sich der möglichen Gefahren freilaufender Hunde bewusst zu sein.
Wird Haustieren in der Stadt oft Kleidung angezogen, die mit Rüschen verziert ist oder einen saisonalen Bezug hat (zum Beispiel Sonnenbrillen und Kleidchen mit Wassermelonen-Design im Sommer), so ist die Haustierhaltung auf dem Land häufig eine andere. Hier findet man Hunde, die angekettet draußen leben. Auch finden sich hier häufiger sogenannte „Nachbarschaftskatzen“, die nicht einer bestimmten Person gehören, sondern von den Mitgliedern der Nachbarschaft gemeinschaftlich gefüttert und gestreichelt werden.

Ziele des Forschungsprojektes

Mein Forschungsprojekt untersucht diverse Aspekte der Haustierhaltung in Japan: die Rolle von Haustieren als Familienmitglieder und den Einfluss der Tiere auf die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Besitzerinnen und Besitzer; die Rolle von Tierschutzbewegungen, die regionalen Unterschiede der Haustierhaltung, die politischen und rechtlichen Entwicklungen in Bezug auf das Tierrecht, aber auch die Rolle von Haustieren in der japanischen Populärkultur. Im Rahmen des Projekts analysiere ich statistische Daten und Massenmediendiskurse und interviewe Haustierhalterinnen und -halter, Vertreterinnen und Vertreter von Tierschutzorganisationen und Politikerinnen und Politiker. Ich führe außerdem teilnehmende Beobachtungen in der Stadt und auf dem Land durch. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Rolle von Haustieren in der japanischen Gesellschaft vielschichtig ist und sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Haustiere werden sowohl als Konsum- und Unterhaltungsobjekte als auch als Familienmitglieder betrachtet. Gerade während der Corona-Pandemie dienten Haustiere als Kompensator der fehlenden sozialen Interaktionen und der damit einhergehenden Isolation und Einsamkeit.