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Wann entstehen Nationen im Osten Europas?

Dr. Andrej Doronin

Wie und zu welcher Zeit haben sich die heutigen Nationen im Osten Europas herausgebildet? Der Historiker Andrej Doronin zeichnet die komplexe Entstehungsgeschichte der osteuropäischen Nationen nach.

Zur Zeit der Renaissance entstand in politischer, historischer und geistiger Hinsicht die moderne nationale Ordnung in Europa. Die beiden Hauptsäulen der christlichen Welt – das Reich und die Kirche – schienen an der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts geschwächt zu sein. Auch der Fall Konstantinopels (1453) trug zu dieser Schwächung bei. Die Trennlinie in Europa verlief nicht mehr entlang des Schismas zwischen Rom und Byzanz, sondern zwischen Europa und „Anti-Europa“ (Fernand Braudel). Die türkische Bedrohung rief eine kulturelle Einheit Europas hervor, die auf latinitas und christianitas gründete.

Die Wurzeln der vereinten Völker

Die im Leib Christi vereinten Völker hatten jedoch verschiedene Ausgangspunkte. Ihre Anfänge waren im Alten Testament, in der trojanischen Sage, in romzentrischen Annalen, in Chroniken der Völkerwanderungszeit oder noch später zu finden. Einige Völker, insbesondere die nach Europa einwandernden, waren Jahrtausende jünger als andere, manche wohl unbekannt in der Antike. Da die italienischen Intellektuellen der Renaissance die von ihnen „rehabilitierte“ Antike so internalisiert hatten, erklärten sie alle übrigen Völker zu Barbaren. Die Zweige des einen Menschenstammes von Adam bis zum Jüngsten Gericht erwiesen sich damit als „abgeschnitten“.  

Entstehung überregionaler ethnokultureller Gemeinschaften

Im Streit mit Petrarcas Epigonen um die translatio imperii et studii sollten die deutschen und französischen Intellektuellen das Eigene in der Antike (er-)finden und konsistent „entbarbarisieren“. Andere Völker Europas sind ihnen gefolgt. Noah, dessen Geschlecht als einziges die Sintflut überlebte, und seine Nachkommen wurden zu ihren Vorfahren stilisiert.  Auf diese Weise entstand ein neues synchronisiertes europäisches historisches und kulturelles Koordinatensystem, in dem sich neue, vermeintlich urtümliche überregionale ethnokulturelle Gemeinschaften manifestierten. Sie definierten jeweils für sich die Eigenart von Sprache und Raum, schufen sich Stammväter und Erinnerungsorte, Helden und Schutzpatrone, Tugenden und Nationalcharakter, Symbole und Traditionen. Die historische Karte Europas wurde auf diesem Weg harmonisiert. Aus dem einzigen, auf Noah zurückgehenden Menschenstamm sprossen zahlreiche neue Triebe – Germania, Francia, Anglia, Pannonia, Sarmatia, Iberia, Skythia, Gothia und viele weitere. In den historischen Narrativen ihrer jeweiligen Intellektuellen wurden ihre Referenzpunkte in allen Epochen der Weltgeschichte festgehalten. Die Mythen der mehrtausendjährigen Kontinuität der verschiedenen Eigenheiten hatten die akuten sprachlichen, territorialen, ständischen, konfessionellen u. a. Identitäten im Rahmen der jeweiligen Blutsnationen zementiert. Der hierarchische Rom-Zentrismus wurde in der Frühmoderne durch den Polyzentrismus der Nationen als „ewige“ Geschichtssubjekte unterschiedlicher Größe und durch eine Polyphonie nationalisierter Versionen der Antike abgelöst.

Die Zersplitterung der Rus

Die Rus’, die schon vor dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert stark von Regionalismen geprägt war, wurde zum 15. Jahrhundert hauptsächlich litauisch und moskowitisch. Auch die Kyiver Metropole zerfiel. Das Großfürstentum Moskau, das die Länder der Rurikiden zu seinem Lehen erklärte, verstand sich seit dem Untergang von Byzanz als Schutzmacht der Orthodoxie und hielt lateinische Einflüsse von seinem Herrschaftsbereich fern. Die südwestliche Rus’, die nicht der Horde tributpflichtig wurde, stand seit dem 14. Jahrhundert unter dem Einfluss der lateinischen Welt. Von einer einheitlichen Rus’ kann dementsprechend nicht die Rede sein. Im 17. Jahrhundert ist die Ukraine als eine überregionale ethnokulturelle Gemeinschaft auf die Karte Europas gelangt.

Verschiedene Rus’ suchten im 16. bis 18. Jahrhundert auch nach einer neuen überregionalen ethnokulturellen Legitimation und erfanden unabhängig voneinander jeweils neue Kontinuitätslinien, die ihren nationalen Narrativen zugrunde lagen. Die Moskauer Rus’ nahm im 17. Jahrhundert ihren Anfang mit den nachsintflutlichen Skythos-Söhnen Sloven und Rus, dem Skythen Serug (ein Nachkomme Sems), oder dem Jafets-Sohn Mosoch. Die Ukraine bezog sich auf Rifat und Fogarma, Gomers Söhne, als ihre Urväter. Die ukrainische Gustynskaya Chronik (1630er) unterschied die Ruthenen und Moskowiten. Beide Völker verwurzelte sie am Asowschen Meer schon nach der Sintflut; nach dem Troja-Krieg, bei dem beide als Eneten bekannt waren, hatten sie dann jedoch ihr eigenes Schicksal.

Das Erbe der frühen Rus

Das Erbe der vormongolischen Rus’ wurde in der frühmodernen Ukraine nicht als Grundlage der nationalen Legitimation in Anspruch genommen. Ihre Anfänge schienen viel tiefer in der Geschichte zu liegen. Der „Chasaren-Mythos“, der die Chasaren als Vorfahren der Kosaken erklärte, wurde zum Keim der ukrainischen Nationsbildung. Er ermöglichte es den Malorossen/Ukrainern, sich sowohl von den Polen mit ihrem Sarmatismus als auch von den Moskowiten mit ihrer eigenen nationalen Mythologie abzugrenzen und sich stattdessen auf ihre eigenen urtümlichen Wurzeln zu besinnen. Das Kosakentum mit seiner slawischen Komponente hat sich aus rein pragmatischen Gründen mit den Ruthenen zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen bzw. zu einem nationalen, ethnokulturell gemischten Projekt verschmolzen. Das Kosakentum ist damit zum Träger einer eigenen ursprünglichen Identität des ukrainischen Volkes geworden. Im 19. Jahrhundert (dem „Jahrhundert der Nationalismen“) wurde der „Chasaren-Mythos“ aktualisiert.

An das Erbe der Frühen Rus’ appellierte auch die litauische Rus’ nicht. Ihr Zusammensein mit Litauern hinterließ aber keinen Mythos einer geeinten Nation. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts suchten litauische Intellektuelle, insbesondere kirchliche, nach Eigenart und urtümlichen Wurzeln einer litauischen (also nicht einer gemischten litvinischen) Nation. 

Ethnokulturell gemischt war auch die moskaurussische Gesellschaft. Ihre Hauptidentität blieb aber eine staatspolitische, keine ethnokulturelle. Das Erbe der Rurikiden-Rus’ konstituierte Russland als Reich und wurde in diesem Sinn instrumentalisiert. Der Mythos eines uralten (moskau-)russischen Volkes stand dem Reich entgegen, weil er die herrschende Dynastie und die orthodoxe Kirche historisch unter das Volk stellte.   

Die gemeinsame Rus’ lässt sich also in der (Früh-)Moderne nur in orthodoxen und imperialen Narrativen finden. Auch heute bleiben das Reich und die orthodoxe Kirche die Hauptsäulen Russlands. Die Ukraine und die litauische Rus’ kannten aber keine Grenzen nach Westen. Sie hatten je ihre eigene Spezifik und Dynamik und waren von variablen Verflechtungen verschiedener Kulturen, Konfessionen, Sprachen und äußeren Einflussfaktoren  geprägt. 


Bildnachweis Header: Jüngstes Gericht. 2. Hälfte des 17. Jhs. Lviver Museum für die Religionsgeschichte. Ein Ausschnitt.

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