Archäologische Objekte aus dem osmanischen Reich finden erst neuerdings mehr Aufmerksamkeit in aktuellen Debatten über die Dekolonisierung und Restitution. Mirjam S. Brusius vom Deutschen Historischen Institut London erforscht die Ausgrabung der Objekte, die Rolle der lokalen Bevölkerung und warum manche Dinge über Jahrzehnte ein Dasein in den Depots europäischer Museen fristen.
Ankunft osmanisch-archäologischer Funde im Großbritannien des 19. Jahrhunderts
Am 28. Februar 1852 erschien in der britischen Wochenzeitung Illustrated London News eine Zeichnung. Das Bild zeigt kein Ereignis, das gerade erst stattgefunden hat. Vielmehr handelte es sich um ein visuelles Konstrukt, welches eine Begebenheit, die bereits zwei Jahre vorher stattgefunden hatte, retrospektiv legitimiert. Im Hintergrund ist die Fassade des Neubaus des British Museum in London zu sehen – damals war der Museumsneubau noch eine Baustelle. Eine Rampe führt die Treppe zur monumentalen ionischen Säulenordnung des Eingangs hinauf, welche den Eingang nicht nur architektonisch, sondern auch programmatisch in Szene setzt. Um die Rampe herum scharen sich Zeuginnen und Zeugen einer spektakulären Szene: die gewaltige Skulptur eines geflügelten Löwen wird über die Rampe in das Museum gezogen (siehe Abb. 1). Die Blickrichtung der Skulptur ist nach außen gerichtet, als würde sie einen letzten Blick ins Freie wagen, bevor sie eine neue kanonische Ordnung im Inneren des Museums betritt.
Das Bild wurde zur Ikone für die erfolgreiche Ankunft archäologischer Funde aus dem alten Mesopotamien, einer Provinz des Osmanischen Reiches, in den Museumssammlungen Europas.
Die Ausgrabungen des britischen Abenteurers Austen Henry Layard
Derartige Objekte wurden zunächst von dem britischen Abenteurer Austen Henry Layard (1817-1894) um 1850 ausgegraben. Man konnte Layard zu dieser Zeit kaum als Archäologen bezeichnen. Layard hatte nie beschlossen, Archäologe zu werden – eine entsprechende wissenschaftliche Disziplin gab es noch nicht – sondern war ohnehin auf dem Weg nach Bagdad, um nebenher diplomatische Dienste zu erledigen. Dabei stolperte er mehr oder weniger zufällig über die Grabungen seines französischen Kollegen, Paul-Émile Botta, der Konsul und Botaniker war. Layards Biographie liest sich wie die eines nach Abwechslung suchenden Studenten aus der englischen Mittelschicht, der für ein „gap year“ noch einmal in die Welt ziehen wollte, bevor zu Hause die situierten Aufgaben des bürgerlichen viktorianischen Lebens auf ihn warteten. Auch das British Museum, das nun primär mit den Funden assoziiert wird, stieß erst später als Auftraggeber hinzu.
Biblische Orte als imperiale und diplomatische Ausgrabungsziele
Im Vordergrund stand die Suche nach biblischen Orten. Die Bibel stand im viktorianischen Großbritannien im Zentrum des intellektuellen und religiösen Lebens und lieferte, neben der klassischen Antike, historische Anhaltspunkte. Doch Layard hielt die biblische Stadt Nimrud zunächst für Nineveh und auch so sollte man nicht annehmen, es handele sich bei den Grabungen um ein bis ins Detail geplantes Vorhaben. Es war somit nur ihr Potential, das die Funde zu sammlungswürdigen Objekten machte. Dies führte nicht selten zu Herausforderungen. Einige Funde widerlegten biblische Quellen, statt sie zu stützen, und drohten somit kanonische Ordnungen ins Wanken zu bringen.
Es wurde also niemand explizit in die Gegend geschickt, um nach bestimmten Objekten zu suchen. Vielmehr waren die Ausgrabungen Nebenschauplatz eines komplexeren Zusammenspiels imperialer und diplomatischer Interessen, die für die wissenschaftlichen Expeditionen im 19. Jahrhundert instrumentalisiert wurden. Schon bald wurden die Grabungen somit von kommerziellen und strategischen Interessen in der Region vorangetrieben.
Mein Forschungsprojekt The Empire in Storage nähert sich der zeitlichen und räumlichen Grauzone, die sich zwischen zwei angeblich stabilen Komponenten in der Geschichtsschreibung befindet: den Ausgrabungen der Funde und ihrer Ausstellung im Museum. Doch was passierte eigentlich dazwischen? Welche Rolle nahmen die einheimischen Akteurinnen und Akteure ein, die vor allem gruben, jedoch oft auch vermittelten? Wann leisteten sie Widerstand oder bewiesen, dass es auch andere Verwendungsmöglichkeiten der antiken Überreste gab? Denn nicht selten wurden soziale Räume und Strukturen der einheimischen Bevölkerung durch europäische Kolonialmächte zerstört, um materielle Kultur zu sammeln und zu ‘bewahren’. Diese Geschichten fanden nur selten Einzug in Dokumente und Archive, was heute eine methodische Herausforderung darstellt.
Eingliederung antiker Objekte in europäische Sammlungen und damit verbundene Herausforderungen
Selbst im Museum betraten die Objekte keinen ‘disziplinierten’ Raum, der dem Chaos der Expeditionen entgegenstand. Sollte man diese kuriosen Figuren in die Nähe der ägyptischen oder der im europäischen Kanon fest verankerten griechischen Skulpturen rücken? Was sollte mit den Keilschrifttafeln geschehen, die noch niemand entziffert hatte, aber auf denen sich vielleicht wichtige historische Hinweise befanden? Viele Objekte wanderten häufig zunächst ins Depot, wo sie oft jahrzehntelang lagerten, bevor ein Spezialist/eine Spezialistin ihnen Bedeutung verlieh. Auch heute, dies zeigte jüngst ein Fall im British Museum, weiß man von vielen kleineren Funden nicht, dass sie überhaupt existieren.
Auch in Preußen und Frankreich formierten sich im 19. Jahrhundert antike Sammlungen. Oft kooperierten die vermeintlich konkurrierenden europäischen Großmächte miteinander, etwa wenn Objekte beim Transport verloren gingen oder in Häfen wie Bombay oder Lissabon strandeten. In Berlin irrten Fragmente des berühmten Ischtar-Tors auf der Museumsinsel von Kellern über Speicher, Lagerräume und Depots, bis man einen Ort für diese fand bzw. schuf (das heutige Pergamonmuseum eröffnete erst 1930). Auch die Funde aus Babylon im heutigen Irak ließen sich nicht ohne weiteres in die dominierenden antiken Sammlungen in „Spreeathen“, wie man Berlin damals nannte, eingliedern.
Zielsetzungen des Forschungsprojektes
Mein Projekt erzählt also weniger die Geschichte der zu Anfang erwähnten Skulptur des geflügelten Löwen, sondern die Geschichte der Bruchstücke vor dem Gebäude (siehe Abb. 1). Es widmet sich weniger der Geschichte der Museumsfassade, sondern die der Freitreppe, die Außen- und Innenraum verbindet und symbolisch für die Zeit und den Raum steht, als die Objekte zwar schon ausgegraben, jedoch noch nicht Teil einer systematischen Sammlung waren. Es erzählt nicht die Geschichte der Museumsangestellten, die sich darüber unterhalten, wo sie die Skulptur am besten präsentieren, sondern die jener, die sich fragen, was sie überhaupt mit diesen ganzen Funden anfangen sollen. Somit geht es auch darum zu zeigen, welche (Objekt-)Geschichten zu welchem Zeitpunkt als erzählenswert erscheinen, wessen Standpunkt und Wissen zählt und wer die Deutungshoheit über historische Entscheidungsprozesse und Narrative besitzt. Ein Objekt kann dabei viele Geschichten erzählen. Sichtbar werden diese allerdings nur, wenn es nicht für immer anonym im Depot verbleibt.
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