In den vergangenen Monaten war in Berichten über die Situation an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland oft die Rede von einer „Festung Europa“. Dabei handelt es sich um ein starkes sprachliches Bild mit einer widersprüchlichen Geschichte.
Als Emmanuel Macron am 19. Januar 2022 die Prioritäten des französischen Ratsvorsitzes vor dem europäischen Parlament präsentierte, reagierte die spanische sozialdemokratische Abgeordnete Iratxe Garcia Perez ungehalten. Europa könne erst dann stark sein, wenn es keine Unsicherheit mehr gäbe. Dazu solle Europa sich nicht in eine Festung verwandeln, die Menschen an ihren Außengrenzen sterben lasse. Die Forderung von Garcia Perez ist sprachlich in den 1990er Jahren verankert. Eine Zeit, in der das Bild der „Festung Europa“ vor dem Hintergrund der „Flüchtlingswelle“ aus Jugoslawien zum Symbol und Werkzeug der europäischen Migrationspolitik wurde. Woher kommt der Zusammenhang zwischen der „Festung Europa“ und der Situation der Migrantinnen und Migranten vor den Toren Europas? Und warum ist das Bild bis heute so negativ behaftet?
Vom Handelsstreit zur Migrationsdebatte
Die „Festung Europa“ war während des Zweiten Weltkriegs ein Synonym für Hitlers Atlantikwall, der das Dritte Reich vor Angriffen der Alliierten schützen sollte. In den 1960er Jahren gab die Vorgängerin der EU, die Europäische Gesellschaft für Kohle und Stahl (EKGS), dem Begriff eine neue Bedeutung: Er wurde in Filmen, die für Europa werben sollten, ins Positive gewendet. Die Festung oder das Bollwerk standen für sichere Grenzen, die vor Eindringlingen schützten. Erst in den 1980er Jahren, als der europäische Binnenmarkt eingeführt wurde, bekam das Bild seine bis heute andauernde negative Konnotation. Die internationalen Handelspartner der EU sahen in der Abschaffung der Zölle innerhalb der EU eine wettbewerbliche Benachteiligung. Besonders Japan und die USA fürchteten, durch eine Neuanpassung alter Handelsabkommen mühsam ausgehandelte Privilegien zu verlieren. In diesem Zusammenhang etablierte sich das Schlagwort einer „Festung Europa“ in der internationalen Presse und wurde fortan verwendet, um den europäischen wirtschaftlichen Protektionismus zu kritisieren.
Mit dem Berliner Mauerfall festigte sich der Traum von offenen Grenzen in Westeuropa, was die negative Konnotation der „Festung Europa“ noch einmal verstärkte. Von dort an verwendeten vor allem linke Abgeordnete im EU-Parlament das Bild, um die Politik der Kommission zu kritisieren. Die einzigen, die in dieser Zeit noch von der „Festung Europa“ träumten, waren rechtsextreme Politiker, die zum Beispiel dem Front National in Frankreich angehörten. In einer Zeit, in der die Anzahl antieuropäischer Abgeordneter im EU-Parlament stetig zunahm, wirkte der Begriff polarisierend und brachte oft gegensätzliche Konzeptionen der EU zum Vorschein.
Als dann zu Beginn der 1990er Jahre die Jugoslawienkriege ausbrachen, veränderte sich die Bedeutung des Begriffs aufs Neue. Die Ereignisse im Balkan nahmen in der Öffentlichkeit einen großen Platz ein und lösten zudem sehr emotionale Reaktionen aus. Dazu kam die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992, der eine gemeinsame europäische Migrationspolitik ermöglichen sollte. Beide Ereignisse rückten die Debatten über den europäischen Protektionismus in den Hintergrund. Das Bild der „europäischen Festung“ entwickelte sich zu einem Synonym für den (schlechten) Umgang der EU mit Flüchtlingen.
Sprache als Imageträger
Der Vorwurf einer „Festung Europa“ blieb von der EU selbst nicht unbeachtet. Jacques Delors, Kommissionpräsident von 1985 bis 1995, erkannte schon früh das Potenzial des Sprachbildes und wollte dessen Verbreitung vermeiden. Er versuchte vor allem, die Kritik der Handelspartner mit einem positiveren Bild zu entschärfen und startete eine Kommunikationskampagne für ein „Europa als Partner in der Welt“. Der Erfolg dieser Offensive war ernüchternd: Zu oft blieb die „Festung Europa“ in diesem Zusammenhang omnipräsent. Das neue Bild war nicht stark genug, um die negative Deutung zu verdrängen.
Im Kontext der Flüchtlingsdebatte in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre diente das Bild außerdem der Selbstdefinition. Mit anderen Worten: Die Metapher der „Festung Europa“ spiegelte nicht nur den Blick von außen auf die EU, sondern auch den Blick der Europäer auf sich selbst wider. Dies wurde besonders deutlich beim Gipfel von Tampere im Jahr 2002. In dessen Schlussfolgerungen bezeichnet sich die EU selbst als „Magnet“, der Menschen von überall aus der Welt anzieht und seine Bürgerinnen und Bürger schützen muss. Eine implizite Antwort auf die „Festung Europa“.
Ein Appell an die Menschlichkeit
Die Menschen, die von der EU wie von einem Magneten „angezogen“ wurden, kamen immer häufiger als illegale Einwanderer über das Mittelmeer in die EU. Ebenso wie heute überlebten die meisten die Reise nur knapp, viele ertranken. Nicht nur Intellektuelle, sondern auch Aktivistinnen und Aktivisten waren damals von den Schicksalen dieser Migrantinnen und Migranten besonders betroffen und sprachen von der „Festung Europa“ und deren Konsequenz: ein „Friedhof im Mittelmeer“. Damit veränderte sich das Sprachbild aufs Neue und verwandelte sich schließlich in einen Appell an die Menschlichkeit.
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