Moralische Kommunikation ist allgegenwärtig, auch in der Ökonomie. Jürgen Finger vom Deutschen Historischen Institut Paris untersucht unter anderem am Beispiel des marché de la coulisse, des „grauen Kapitalmarktes“ im Paris des 19. Jahrhunderts, wie Fragen von moralischer Ökonomie verhandelt wurden und inwieweit sich Moral als analytischer Begriff eignet.
Stellen Sie sich vor, Sie lebten in den 1880er Jahren in Paris und hätten ein wenig Geld übrig. Nicht viel, aber genug, um an den Gewinnen des Industriekapitalismus und der Finanzmärkte teilhaben zu können, von denen Sie in der Presse lesen. Auch Sie wollen Ihren Anteil an der Rendite der Aktiengesellschaften haben, die in Frankreich Straßenbahnnetze betreiben, im Mittleren Osten Eisenbahnen bauen oder in Südamerika Goldminen ausbeuten. Der Suezkanal war eine gute Idee, weshalb also nicht in den Panamakanal investieren? Doch wie machen Sie das? Ein Bankkonto haben Sie nicht – das besitzt fast niemand; die meisten Banken sind reine Geschäftsbanken; bei den Sparkassen (caisses d'épargne) und Genossenschaftsbanken (crédit mutuel) können Sie keine Wertpapiergeschäfte tätigen. Die Makler[1] der Pariser Börse verlangen hohe Gebühren und die Mindestanlagesumme übersteigt Ihre Verhältnisse. Frauen dürfen das Palais Brongniart, die Börse, ohnehin nicht betreten. Was ist in einem solchen Fall zu tun?
Der „graue Finanzmarkt“ im Paris des späten 19. Jahrhunderts
Wie alle Pariserinnen und Pariser wissen Sie, wo Sie spekulieren können – und wenn Sie aus der Provinz kommen, können Sie es in einem Stadtführer nachlesen: Sie gehen zum marché de la coulisse, wo „hinter den Kulissen“ des amtlichen Handels Geschäfte gemacht werden. Dieser illegale, aber vom Staat geduldete „graue Finanzmarkt“ trifft sich auf dem Platz vor dem Palais Brongniart, in einem der umliegenden Cafés, einer der beliebten Passagen, oder abends in der großen Schalterhalle des Crédit Lyonnais, zu dieser Zeit eine der bedeutendsten Banken in Frankreich. Wenn Sie clever sind, kaufen Sie die Aktien gar nicht richtig, sondern leisten lediglich eine Anzahlung, wetten auf einen Kursanstieg zum Monatsende, rechnen dann mit dem Makler ab und erhalten den Kursgewinn. Anders gesagt: Sie schließen ein Differenzgeschäft ab und „hebeln“ den Einsatz, das heißt, Sie versuchen mit einem relativ geringen Kapitaleinsatz hohe Renditen zu erzielen. Dass der Makler die echte Aktie auf Papier liefert, ist oft gar nicht vorgesehen – er besitzt sie im Zweifelsfall auch gar nicht. Obwohl dies illegal ist und die Polizei das Treiben aufmerksam beobachtet, schreitet sie nur selten ein. Der Nachteil an der Sache ist, dass das aus illegalen Geschäften stammende Geld im Falle eines Betrugs nicht vor Gericht einklagt werden kann.
Weshalb vertrauen Sie dennoch „Ihrem“ Kulissenhändler? Weshalb tun das Zehntausende von Spekulantinnen und Spekulanten – von der verarmten Witwe bis zum Bankdirektor? Haben Sie dieses durch Spekulation, also ohne Arbeit und Mühe erworbene Geld überhaupt „verdient“?
Forschungsfragen und Fallstudien
Diese und weitere Fragen werden im Rahmen meines Habilitationsprojekts beantwortet. Es beschäftigt sich thematisch mit der Moral der Ökonomie, konkret mit moralischen Normen ökonomischen Handelns in Frankreich am Übergang zum 20. Jahrhundert. Das Manuskript befasst sich mit den formellen und informellen Normen, an denen Akteurinnen und Akteure ihre Entscheidungen ausrichteten und mit denen in der Gesellschaft ökonomisches Handeln bewertet wurde.
Die Formen moralischer Kommunikation müssen in konkreten Situationen untersucht werden, um besser zu verstehen, wie ethische, religiöse und politische Überzeugungen, also allgemeine, oft abstrakte Moralvorstellungen, in konkrete Handlungsregeln „übersetzt“ und anwendbar gemacht wurden. Ich untersuche deshalb vier Fallstudien: die Insolvenzen von Kaufleuten in Paris; die rassistische Legitimierung eines Rechtsinstruments, das es „Europäerinnen und Europäern“ in den französischen Kolonien erlaubte, „Einheimische“ in Erzwingungshaft nehmen zu lassen; Teuerungsproteste im Nord-Pas-de-Calais 1910 und 1911; und schließlich der „graue Finanzmarkt“ von Paris. Diese Fallstudien erlauben auch Aussagen über größere Problemkomplexe: den Umgang mit Scheitern, Machtasymmetrien in kolonialen Gesellschaften, Verteilungskonflikte angesichts von Inflation und knappen Ressourcen sowie die (Selbst-)Regulierung von Finanzmärkten.
Das geplante Buch wird drei Ziele erfüllen: Erstens wird es das Wissen über die untersuchten Fallstudien erweitern, die in einer Phase besonderer ökonomischer Dynamik und eines die ganze Gesellschaft erfassenden Strukturwandels untersucht werden. Zweitens greift es Forderungen nach einem produktiven Austausch von Sozial-, Kultur-, Wissens- und Wirtschaftsgeschichte auf. Drittens liefert es einen Beitrag zur Moralgeschichte der Moderne, da das hier entwickelte Analyseraster auch auf andere Prozesse der Moralisierung angewandt werden kann.
Wenn man nur die Rechts- und Institutionengeschichte der offiziellen Börse betrachten würde, sähe man nur das halbe Bild, denn der Kulissenhandel war in den 1880er Jahren wesentlich größer als der amtliche Handel des Palais Brongniart. Gerade weil die im Kern noch auf Napoleon zurückgehenden Handelsvorschriften hier nicht galten, war dieser „graue Finanzmarkt“ so effizient und erfolgreich.
Warum das so war, lässt sich nur verstehen, wenn die moralischen Erzählungen der Spekulantinnen und Spekulanten und der Makler sowie deren Vorstellungen von einem geordneten Markt ernst genommen werden. Welche Regeln erlegten sich die Akteurinnen und Akteure selbst auf und wie setzten sie diese ohne staatliche Zwangsmittel gegenüber anderen durch? War die „korrekte“ Abwicklung eines Wertpapiergeschäfts nur eine technische Frage oder doch ein Zeichen für die Fortgeltung klassischer kaufmännischer Moralvorstellungen sogar im Finanzmarkt? Die informellen Normen des marché de la coulisse begrenzten Handlungsoptionen, kanalisierten Verhalten, förderten Konfliktlösungen und übersetzten abstrakte Ideale wie die Gleichheit zwischen Vertragspartnern oder Verlässlichkeit in konkretes Handeln.
Wenn man die Ordnungsvorstellungen der Akteurinnen und Akteure ernst nimmt, erscheint die Moral der Ökonomie weder als Erinnerung an eine idealisierte und angeblich verlorengegangene „bessere“ Form des Wirtschaftens noch als Hoffnung auf eine utopische Wirtschafts- und Gesellschaftsformation der Zukunft. Die Moral der Ökonomie erscheint auch nicht als Nische, die der Kapitalismus nur noch nicht erreicht hat. Sie ist vielmehr integraler Bestandteil der Moderne, des Kapitalismus und des Sprechens über diesen.
Weitere Informationen zum Projekt: https://doi.org/10.5281/zenodo.7134971
Weitere Informationen zum Autor: ORCID 0000-0003-4026-6826
[1] Aus historischen Gründen wird hier nur die männliche Form verwendet.
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