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Geschlecht, Bildung und Covid-19: Auswirkungen der Pandemie in einem strukturell benachteiligten Stadtviertel in Delhi

Dr. Yamini Agarwal

Einer der durch die Covid-19-Pandemie beeinträchtigten Bereiche war der Bildungsbereich. Besonders betroffen waren Schülerinnen und Schüler aus armen Verhältnissen, die keinen Zugang zu technischen Endgeräten besaßen, die für die Teilnahme an Online-Bildungsformaten erforderlich waren. Yamini Agarwal vom Max Weber Forum für Südasienstudien Delhi befragte über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren 25 junge Frauen in einem strukturell benachteiligten Stadtviertel in Delhi, um die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf ihre Bildungswege zu untersuchen und zu erforschen, inwieweit ihre Bildung von der Rolle ihres Geschlechts und dem Gebiet, in dem sie leben, beeinflusst wurde.


Die sechzehnjährige Asfiya sieht eifrig zu, wie ihre drei jüngeren Schwestern ihre Hausaufgaben erledigen, während ich ein Interview mit ihr führe. Sie ist eine strenge Mutterfigur für ihre Schwestern und achtet darauf, dass sie im Gegensatz zu ihr ihre Ausbildung abschließen. Asfiya war 13 Jahre alt und Schülerin der Klasse VII, als die Covid-19-Pandemie ausbrach. In Indien wurde der Lockdown zur Verhinderung der Ausbreitung der Pandemie im März 2020 verkündet, gerade als die Schulprüfungen zum Schuljahresende stattfanden. In den nächsten zwei Monaten nach der Verkündung des Lockdowns gab es keine Nachrichten über die Wiederaufnahme des Schulunterrichts, obwohl die Schülerinnen und Schüler in die nächsthöhere Klasse versetzt worden waren. „Es war beängstigend und ich war besorgt“, betonte Asfiya.

Pandemiebedingte Herausforderungen im (Schul-)Alltag

Was dann folgte, hätte sie sich nie vorstellen können. Selbst als der Unterricht für ihre neue Klasse VIII im Juli 2020 wieder aufgenommen wurde, konnte sie an diesem online nicht teilnehmen, weil sie kein Smartphone besaß. Ihr Vater, ein Schneider, konnte ihr kein Smartphone bezahlen und war seit dem Lockdown arbeitslos. Asfiya wartete und ging alle zehn Tage zu ihrer Schule, um Arbeitsblätter für das Lernen zu Hause abzuholen. Der gleiche Ablauf galt für ihre Schwestern. Ende des Jahres 2020 heiratete Asfiya ihren Cousin im Heimatdorf ihres Vaters in Uttar Pradesh, wo die Familie einige Monate nach Aufhebung des ersten Lockdowns verbrachte. Sie blieben dort von Mitte August bis Ende Dezember 2020, da Asfiyas Eltern vorübergehend Arbeit in der Landwirtschaft fanden. Zu Beginn des Januars 2021 kehrte die Familie mit Asfiya nach Delhi zurück, da es üblich ist, dass die Familie der Braut ein paar Jahre wartet, bevor sie diese in ihr eheliches Zuhause „übergibt“. Im Jahr 2022, zum Zeitpunkt des Interviews, war Asfiya zwar noch in der staatlichen Schule in der Nähe ihres Wohnorts gemeldet, diese hatte sie jedoch bereits abgebrochen. Gegen Ende des Gesprächs erwähnte Asfiya, dass sie Ärztin hätte werden wollen, als sie noch zur Schule ging.

Covid-19, Genderaspekte, Wohngegend – Auswirkungen auf individuelle Bildungswege

Asfiya ist eines von 25 jungen Mädchen, die befragt wurden, um die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Bildung von Schülerinnen in einem einkommensschwachen Arbeiterviertel in Delhi zu verstehen. Das Projekt hat den Alltag der Teilnehmerinnen über zweieinhalb Jahre verfolgt und sich auf die folgenden Fragen konzentriert: Mit welchen unmittelbaren Bildungsherausforderungen sahen sich die Teilnehmerinnen nach dem ersten Lockdown im März 2020 konfrontiert? Welche Unterstützung wurde von ihren Bildungseinrichtungen bereitgestellt, um sicherzustellen, dass sie ihre Ausbildung digital fortsetzen konnten? Hatten ihr sozioökonomischer Hintergrund, ihr Wohnort und ihr Geschlecht einen Einfluss auf ihren Bildungsweg? Welche langfristigen Auswirkungen hatten die folgenden zweieinhalb Jahre, in denen die Schulen für fast ein Jahr geschlossen waren, auf ihre Bildung? Die Studie stützt sich auf Gender- und Konflikttheorien, die zeigen, wie eine Krise bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und patriarchalische Normen verschärfen kann.

Auswirkungen mangelhafter Infrastruktur auf individuelle Bildungschancen

Die Ethnografie des Stadtviertels, in dem die Studie stattfindet, ist für die Erzählungen der Teilnehmerinnen und das Projekt von zentraler Bedeutung. Sompur liegt am südlichen Stadtrand von Delhi und ist ein belebtes Viertel mit fast einer Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Es ist in 11 Zonen unterteilt und erstreckt sich über eine Fläche von etwa neun Kilometern. Das Viertel gilt offiziell als nicht genehmigt, was in der Regel bedeutet, dass es unter Missachtung der offiziellen Bebauungsvorschriften errichtet wurde und dass die staatlichen Dienstleistungen (wie Strom und Wasser) unzureichend sind, obwohl die Bewohnerinnen und Bewohner das Wahlrecht haben. Sompur ist von einigen der teuersten Stadtteile umgeben, die von Einkaufszentren, U-Bahn-Stationen, Privatschulen und Krankenhäusern gesäumt sind. Die ethnografische Untersuchung von Sompur, die auch Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie städtischen Fachleuten umfasst, die in diesem Gebiet arbeiten, zeichnet jedoch ein düsteres Bild: Jede Straße ist mit wahllos gebauten Häusern gesäumt, und Überbauung ist an der Tagesordnung.

In Sompur gibt es weder ein zentrales noch ein den Bedürfnissen des Viertels entsprechendes Abwassersystem. Die Häuser sind mit offenen Abwasserkanälen verbunden, die eine Reihe von Gesundheits- und Umweltproblemen verursachen. Müll, feste Abfälle und Baumaterialien werden einfach auf die Straße gekippt. Diese infrastrukturellen Defizite spiegeln sich auch im örtlichen Gesundheits- und Bildungssystem wider. Es gibt kein staatliches Krankenhaus innerhalb des Stadtviertels, kleine private Ein-Bett-Kliniken sind hingegen weit verbreitet.
Vor allem aber offenbart das Viertel ein kritisches Bild im Bereich der Bildung. So gibt es in Sompur nur eine einzige weiterführende Schule mit einem Morgenunterricht für Jungen und einem Abendunterricht für Mädchen. Zu den weiteren staatlichen Schulen gehören drei Grundschulen, die von der Municipal Corporation of Delhi (eine staatlich-städtische Körperschaft in Delhi) verwaltet werden, und eine Mittelschule, die von der lokalen Regierung in Delhi, die auch für die Municipal Corporation of Delhi verantwortlich ist, betrieben wird. Außerdem gibt es acht anerkannte Privatschulen, von denen jedoch nur sechs eine Ausbildung bis zur Klasse XII anbieten. Die Eltern der Schülerinnen und Schüler, die diese Privatschulen besuchen, gehen in der Regel besseren oder regulären beruflichen Tätigkeiten nach, zum Beispiel Führungspositionen auf unterer Ebene, da die Schulgebühr zwischen 2000 und 4500 Rupien pro Monat beträgt.

In der Gegend gibt es jedoch zahlreiche nicht anerkannte Privatschulen mit niedrigen Gebühren, die nicht der staatlichen Schulbehörde angeschlossen sind. Diese Schulen verfügen oft über drei bis fünf Räume und versprechen, den Kindern zu geringen Kosten eine Ausbildung in Englisch zu vermitteln. Da die Ansprüche der Eltern gestiegen sind, besuchen viele Kinder diese Schulen, die seit dem Jahr 2005 in Sompur wie Pilze aus dem Boden schießen. Einer aktuellen Schätzung zufolge gibt es hier fast 40 nicht anerkannte Grund-, Mittel- und Sekundarschulen mit jeweils mindestens 60 und höchstens 300 Schülerinnen und Schülern, bei denen es sich meist um Schülerinnen und Schüler der ersten Generation handelt, deren Eltern in schlecht bezahlten, unsicheren beruflichen Positionen arbeiten.

Ziele des Forschungsprojektes

In Anbetracht dieser strukturellen Merkmale von Sompur, wo Armut und Unsicherheit endemisch sind, untersucht das Projekt die Erfahrungen der Teilnehmerinnen mit der Pandemie, einschließlich derer, die Handlungsfähigkeit bewiesen und versuchten, ihre Ausbildung trotz der durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen fortzusetzen. Die Studie wirft pädagogische und politische Fragen zur Bildungspolitik im Allgemeinen und speziell in staatlich nicht autorisierten Gebieten (wie im Stadtviertel Sompur) auf, um neue Strukturen der Ausgrenzung und Marginalität im Bildungssystem aufgrund der Pandemie zu beleuchten.

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