Die intellektuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts scheint im Wesentlichen vom Einfluss männlicher Intellektueller geprägt zu sein. Diesen Eindruck erzeugen die Archivbestände dieser Zeit, in denen weibliche Wissenschaftlerinnen kaum Erwähnung finden. Am Beispiel der Sozialforscherin Hilda Weiss zeichnet Emily Steinhauer den langen Weg weiblicher Intellektueller zur öffentlichen Sichtbarkeit und ihre Rolle in der intellektuellen Wissenserzeugung nach.
Ende 2021, inmitten sich wieder verschärfender Pandemiemaßnahmen, kontaktierte ich ein Universitätsarchiv in New York, um eine Vermutung zu bestätigen. Außer einem Foto lagen keinerlei Unterlagen zur Sozialforscherin Hilda Weiss vor, die nach ihrer Flucht aus Nazideutschland dort am Brooklyn College gelehrt hatte. Nun sind Archivlücken und fehlende Quellenbestände nichts Ungewöhnliches für Historikerinnen und Historiker; immer wieder geht Material verloren oder wird gar nicht erst gesammelt. Der Fall Weiss ist allerdings deswegen interessant, weil sie in anderen Archivkontexten durchaus Spuren hinterlassen hat. Seit der Zwischenkriegszeit war sie am Frankfurter Institut für Sozialforschung beschäftigt, wo sie auch promovierte und sich an einigen wichtigen Forschungsprojekten beteiligte. Im Nachlass des Sozialphilosophen Max Horkheimer, der gut gesichert in Frankfurt lagert, taucht plötzlich auch die Korrespondenzpartnerin Weiss auf. Nur über den Umweg eines bekannten männlichen Intellektuellen wird Quellenmaterial zugänglich, das uns Aufschluss über ihr Leben und ihre Gedanken gibt.
Hat Intellektualität ein Geschlecht?
Der Fall Weiss überrascht nicht. Zwar gibt es durchaus einige weibliche Intellektuelle im zwanzigsten Jahrhundert, die einen eigenen Archivbestand vorweisen können, insgesamt spiegelt die Quellenlage aber den Forschungsstand der intellektuellen Geschichte wider: viele Männer, wenige Frauen. Das hat auch mit unserem Verständnis des Intellektuellen oder Experten sowie mit unserer Definition von intellektueller Arbeit zu tun. Noch immer herrschen Ideale des männlichen „Genies” vor; Assistenzarbeit, Übersetzungsleistung oder Teamwork sind hier schwer einzuordnen. Quellenstand und öffentliches Bild reflektieren somit eine gesellschaftliche Tatsache und eine ideologische Voreingenommenheit, die kritisch hinterfragt werden müssen. Gleichzeitig zeigt uns das Beispiel Hilda Weiss, dass eine Spurensuche oftmals erfolgreich sein kann – nicht nur, wenn es darum geht, einzelne weibliche Intellektuelle und ihren Beitrag zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu würdigen, sondern auch, um intellektuelle Kulturen und die Wissenserzeugung besser zu verstehen. In der Soziologie und Psychoanalyse, die mich in meinem Forschungsprojekt vor allem interessieren, ist das besonders bemerkenswert. Denn hier fanden sich schon relativ früh Frauen, die Grundsätzliches für diese Fachbereiche leisteten. Außerdem setzte gerade die sich entwickelnde empirische Sozialforschung Teamarbeit voraus.
Die „intellektuelle Emigration” als „female brain drain”
Im Kontext von Geschlecht und Intellektualität wirkt die Flucht aus Nazideutschland und dem bedrohten Europa wie ein Brennglas. Bereits bestehende Ungleichheiten im Hinblick auf die Sichtbarkeit weiblicher Intellektueller und Akademikerinnen sowie die Möglichkeiten ihrer geistigen Entfaltung wurden durch die Flucht ins Exil weiter verschärft. Zunächst hatte sich in der Weimarer Republik für intellektuell interessierte Frauen ein neues Portfolio an Möglichkeiten aufgetan. Die „neue Frau” hatte nicht nur formal das Wahlrecht erlangt, sondern auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Kultur, Gesellschaft und Beruf gab es nun mehr Wirkungsraum. Dazu gehörten auch die universitäre Ausbildung und das Berufsleben. Soziologische und psychologische Experimentierfreudigkeit griff um sich und bald fanden sich auch viele Frauen auf und neben der Couch. Von der Trainingsanalyse zur Theoriearbeit oder der Kindergartenreform, überall gab es engagierte und innovative Erneuerinnen. Die Nazidiktatur machte diese Freiheiten allerdings bald wieder zunichte. Unter den wissenschaftlichen Pionierinnen waren auch viele Jüdinnen gewesen, die nun unmittelbar Opfer des Antisemitismus wurden. Hinzu kamen die nationalsozialistische Frauenpolitik und Feindseligkeit gegenüber Forschungsfeldern wie der Soziologie und Psychoanalyse. Für viele war daher das Exil der einzige Ausweg. Doch auch in der Emigration gab es Schwierigkeiten, die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Vorurteile gegenüber den zentraleuropäischen Flüchtlingen vermischten sich mit einem generellen Mangel an Wertschätzung weiblicher intellektueller Arbeit. So hatte die englische Schriftstellerin Virginia Woolf bereits 1929 in ihrem feministischen Klassiker A Room of One’s Own den sexistischen Umgang mit weiblichen Intellektuellen angeprangert und verschärfte diese Kritik 1938 in Three Guineas noch einmal, indem sie Parallelen zu den kontinentaleuropäischen Diktaturen zog. Der Wegzug weiblicher Intellektueller, Expertinnen und Wissenschaftlerinnen aus Europa in den 1930er Jahren war somit Teil einer großen Exilbewegung, oftmals als „intellektuelle Emigration” bezeichnet. Diese verlagerte über Jahrzehnte den Schwerpunkt intellektueller Kultur in neue Zentren, auch wenn es um den Beitrag von Frauen geht.
Institute, Netzwerke, Einzelkämpferinnen
Weiss gelang 1939 die Flucht in die USA, wo sie sich anfangs mit Lehraufträgen in den Südstaaten über Wasser hielt, bevor sie die Festanstellung am Brooklyn College erhielt. Vielen anderen Wissenschaftlerinnen im Exil erging es ähnlich. So musste sich die Sozialwissenschaftlerin Viola Klein in London erst als Haushaltshilfe durchschlagen, bevor sie unter Karl Mannheim ein zweites Promotionsprojekt über die Ideologie des weiblichen Charakters beginnen konnte. Diese Hilfestellungen von etablierten männlichen Kollegen waren oft essentiell, um ein akademisches Weiterkommen zu garantieren. Eine Ausnahme finden wir in der Psychoanalyse. Hier beanspruchten gleich zwei Frauen die Interpretationshoheit über ein ganzes Fach: Im englischen Exil kam es zum grundlegenden Richtungsstreit zwischen Anna Freud und Melanie Klein. Diese Bandbreite intellektueller Etablierung und Prekarität gilt es zu untersuchen und als Teil der intellektuellen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen.
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