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‚In sieben Tagen von Rio nach New York!‘ Panamerikanismus, Mobilität und Wissen

Dr. Mario Peters

Jules Verne hätte es sich nicht besser ausdenken können: eine durchgehende Eisenbahn von Alaska bis nach Feuerland! Seit den 1870er Jahren faszinierte diese Idee zahlreiche Menschen in den Amerikas und in Übersee. Zwar scheiterte das Projekt, aber Mobilitätsinfrastrukturen spielten in den interamerikanischen Beziehungen fortan eine entscheidende Rolle: In den 1920er Jahren begann man statt einer Eisenbahnverbindung eine interkontinentale Autobahn zu planen, den Pan-American Highway.

‚Wir wissen zu wenig!‘ Mit diesem Argument lehnte der argentinische Ingenieur Miguel Tedín auf einer Sitzung der Intercontinental Railway Commission 1891 zeitnahe Vorarbeiten für eine interamerikanische Eisenbahn ab. Andere Mitglieder stimmten zu, dass nur sehr wenig über die Länder bekannt war, durch die die Bahn verlaufen sollte. Jedoch entschied die Mehrheit, dass gerade dieser Mangel an Informationen die umgehende Entsendung von Vermessungstrupps nach Zentral- und Südamerika notwendig machte.

Wie diese Episode verdeutlicht, spielten Fragen des Wissens in der Planung von interamerikanischen Verkehrsinfrastrukturen eine zentrale Rolle. In meinem Habilitations-Vorhaben untersuche ich mit der Intercontinental Railway, einer transkontinentalen Eisenbahnverbindung, und dem Pan-American Highway, einer transamerikanischen Autobahn, zwei Großvorhaben der Verkehrsinfrastruktur im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Zusammenhang zwischen panamerikanischen Ideen, grenzüberschreitender Mobilität und der Produktion und Zirkulation von Wissen. Der Fokus liegt auf den 1890er und den 1920er Jahren. In diesen beiden Jahrzehnten fanden sowohl aus mobilitätshistorischer Perspektive als auch im Hinblick auf den Wissensaustausch in interamerikanischen Foren entscheidende Entwicklungen statt.

An den Debatten über die Eisenbahn und den Highway beteiligten sich Staatsmänner, Diplomaten, Unternehmer, Ingenieure und Journalisten. Politische, berufliche und persönliche Interessen nahmen Einfluss darauf, welche Ziele diese Akteure mit dem Bau interamerikanischer Verkehrsinfrastrukturen verfolgten. US-Amerikaner, Kanadier und Lateinamerikaner waren daher keineswegs jeweils einheitlich handelnde Gruppen.

Wissen

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden weltweit internationale Vereinigungen, die zu Plattformen für die Zirkulation von Fachwissen wurden. Auch die Intercontinental Railway Commission sollte ursprünglich eine Experten-Kommission sein, besetzt mit jeweils drei Ingenieuren aus jedem der beteiligten Länder. Die Ingenieure waren letztendlich jedoch in der Unterzahl. Führende Großindustrielle vertraten die Vereinigten Staaten; die meisten lateinamerikanischen Länder entsandten Diplomaten in die Kommission.

Angesichts dieser Zusammensetzung verwundert es nicht, dass in der Kommission unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung von Fachwissen und exakten Daten für die Planung der Eisenbahn bestanden. Besonders kontrovers diskutierte man den Streckenverlauf. Die Analyse dieser Diskussionen zeigt, dass die wenigen Ingenieure in der Kommission, die für eine umfassende Akquise und sorgfältige Aufbereitung von Informationen eintraten, sich gegenüber denjenigen Mitgliedern, die auf ein schnelles Handeln drängten, nicht durchsetzen konnten. Ein Vergleich zwischen den 1890er und den 1920er Jahren soll zeigen, ob Ingenieure, die an den Panamerikanischen Highway-Kongressen teilnahmen, mehr Einfluss auf den Planungsprozess hatten und welche Bedeutung Expertentum nun beigemessen wurde.


Panamerikanismus

Die Eisenbahn und der Highway waren integrale Bestandteile des Panamerikanismus. Unter Panamerikanismus versteht man eine Bewegung, die die Beziehungen und Kooperationen zwischen den Staaten der amerikanischen Kontinente intensivieren wollte. Mit beiden Verkehrsprojekten eng verbunden war das Interesse der Vereinigten Staaten an der Ausdehnung ihres politischen und ökonomischen Einflusses. In Lateinamerika war man sich entsprechender Intentionen bewusst. Dort assoziierte man allerdings Eisenbahnen und Fernstraßen mit Fortschritt und Modernisierung und lehnte die interkontinentalen Infrastrukturen keineswegs von vornherein ab.

Besonders spannend zu beobachten ist, dass manche Akteure die Verbindung der drei Amerikas betonten – einige Unterstützer sahen in der Intercontinental Railway gar den Ausgangspunkt für durchgehende Überland-Verbindungen nach Asien und Europa – während für andere die regionale Integration oder aber die Förderung lokaler Mobilität im Vordergrund stand.

Mobilität

Welche Art von Mobilität sollten die interamerikanischen Verkehrsinfrastrukturen ermöglichen und wer waren die potentiellen Nutzerinnen und Nutzer? Frühe Schriften zur Intercontinental Railway sagten voraus, dass zigtausende Menschen aus Nordamerika nach Süden und genauso viele aus Südamerika nach Norden reisen würden. Oder wie ein Verfechter es 1879 ausdrückte: ‚In sieben Tagen von Rio nach New York!‘ Zehn Jahre später war der Bau der Eisenbahn ein von offizieller Seite gefördertes Projekt. Die Mobilität von Personen spielte aber zu diesem Zeitpunkt kaum mehr eine Rolle. Es ging nun fast ausschließlich um den internationalen Handel, also die Mobilität von Waren, mit der man die Einheit der Amerikas unter dem Schlagwort hemispheric unity aufs Engste verknüpfte. 

Hier ist der Vergleich zwischen den 1890er und den 1920er Jahren besonders spannend. Im Kontext der beginnenden Automobilisierung spielte der Ausbau von Infrastrukturen für den Automobiltourismus in Südamerika ebenso wie in Nordamerika eine große Rolle. Zeitgleich wurden Mexiko und Kuba zu beliebten Zielen für motorisierte Reisende aus den USA. In Folge dieser Entwicklungen stand nun nicht nur der Warenhandel, sondern auch die grenzüberschreitende Mobilität von Personen im Zentrum der Debatten zum Pan-American Highway. 

Fazit

Mit der wachsenden Popularität der Idee einer durchgehenden Überland-Verbindung zwischen Nord-und Südamerika wurden Mobilität und Verkehr seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu zentralen Aspekten in den interamerikanischen Beziehungen. Die Planung der Intercontinental Railway und des Pan-American Highway war von politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch- und Aushandlungsprozessen geprägt. Insbesondere in der Frage, wie mit fehlendem Wissen umzugehen war, gingen die Meinungen auseinander.

Verband man mit interkontinentalen Infrastrukturen zunächst die Hoffnung auf intensivierte Handelsbeziehungen, so wurde mit der Verbreitung der Automobilkultur auch die antizipierte Mobilität von Reisenden zum Symbol der Völkerfreundschaft in den Amerikas.

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