Erinnerungskultur ist ohne eine grundlegende Infrastruktur wie materielle Bautechnik, zeitliche Planung oder finanzielle Fördermittel nicht denkbar. Dennoch finden diese „unsichtbaren“ Prozesse in der Forschung zum kulturellen Gedächtnis nur wenig Beachtung. Ein Forschungsprojekt am Deutschen Historischen Institut Warschau widmet sich diesen Prozessen und untersucht ihren Einfluss auf die Entwicklung verschiedener Gedenkformen.
In Ländern wie Deutschland und Polen ist das kulturelle Gedächtnis ein fester Bestandteil der politischen Agenda. Die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung konzentriert sich dementsprechend auf politische und semantische Analysen. Bei der Produktion von Museen, Denkmälern oder Geschichtsfilmen spielenjedoch auch außerpolitische Faktoren eine grundlegende Rolle. Nehmen wir das Beispiel der Denkmäler: Nachdem die Entscheidung über die Errichtung eines Denkmals gefallen ist, muss ein Standort gewählt werden. Dieser hängt unter anderem von verkehrstechnischen Bedingungen ab: Das Denkmal darf beispielsweise den Autofahrerinnen und Autofahrern die Sicht auf die Straße nicht versperren. Einer der nächsten Schritte ist die Auswahl des Baumaterials. Und wieder kommt die Pragmatik ins Spiel, denn Denkmäler müssen aus witterungsbeständigen Materialien gebaut werden. Schließlich muss der Bau finanziert werden: Handelt es sich um öffentliche Mittel, ist das Vergaberecht zu beachten, und die Kosten müssen fristgerecht abgerechnet werden. Dies ist oft der Grund für den zeitlichen Ablauf der Bauarbeiten und den Termin der Enthüllung. Das Endresultat geht also nicht nur auf die ursprüngliche politische Entscheidung zurück, sondern auch auf materielle und umweltbezogene Bedingungen. Der Schwerpunkt des Forschungsprojekts liegt dementsprechend auf den pragmatischen Aspekten der Erinnerungskultur und der Aufdeckung von größtenteils unsichtbaren Prozessen hinter ihrer Herstellung.
Mehr als schlichte Rahmenbedingungen
Informationen über Umweltbedingungen, Finanzierungsrahmen oder technische Daten werden in der Forschung zum kulturellen Gedächtnis meist nur beiläufig erwähnt. Dabei handelt es sich um weit mehr als schlichte Rahmenbedingungen. Es sind fundamentale Infrastrukturen, auf denen Gesellschaft und Kultur aufbaut. Ohne sie wäre auch die Erinnerungskultur nicht denkbar. Bisher fehlt allerdings die Sprache zur wissenschaftlich fundierten Beschreibung der infrastrukturellen Bedingungen des Gedenkens. In Anlehnung an die infrastructure studies, eine Forschungsrichtung, die sich mit der Aufdeckung scheinbar unsichtbarer Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens befasst, konzentriert sich das Projekt auf den materiellen Unterbau kultureller Gedenkformen. Dabei sind sowohl nicht-menschliche Akteure wie Geld oder Landschaft, als auch ihre Nutzung durch menschliche Akteure zu beachten. Ziel ist es, einen theoretischen Ansatz zu entwickeln, der eine Perspektive auf die Infrastruktur der Erinnerungskultur jenseits von politischen und semantischen Analysen öffnet. Aufgrund zahlreicher historischer Verflechtungen stehen Polen und Deutschland im Fokus der Fallstudien, wobei das Projekt auch Orte jenseits der beiden Länder berücksichtigt.
Das Konzept ist in zwei Blöcke gegliedert: Materialität & Umwelt sowie Geld & Gesetzgebung. Dabei handelt es sich hauptsächlich um eine analytische Trennung, denn Materie, Umwelt, Geld und Gesetze sind in der erinnerungskulturellen Praxis eng miteinander verknüpft. So sind beispielsweise Museen stark von umweltbezogenen Regulierungen, verfügbaren Baumaterialien, Maßnahmen zum Denkmalschutz oder Finanzierungsrahmen abhängig. Zudem ist der Museumsboom der letzten zwei Jahrzehnte unter anderem auf die Digitalisierung und Verbreitung interaktiver Technologien zurückzuführen. EU-Programme, wie z. B. Creative Europe, prägen wiederum die Zusammenarbeit mehrerer Institutionen, was sich auf die zunehmende Entwicklung von transnationalen Geschichtsnarrativen auswirkt.
Die Infrastruktur zurückverfolgen
Das Projekt deckt die Infrastruktur der Erinnerungskulturen in historischer Perspektive auf. Welche menschlichen und nicht-menschlichen Akteure prägen die Erinnerungslandschaft heute und welche beeinflussten ähnliche Prozesse in der Vergangenheit? Welche Zäsuren sind relevant? Während für den Wandel der wirtschaftlich-rechtlichen Infrastrukturen die Wende um 1989 oder die EU-Erweiterung bedeutend sind, hängen die umweltbezogenen und materiellen Bedingungen vielmehr von der Entwicklung der Technik und neuerdings auch vom Klimawandel ab. Die Infrastrukturen der Erinnerungskultur haben jedoch eine viel längere Geschichte, wie bei der Vermittlung des kulturellen Gedächtnisses über Bildung deutlich wird: Spätestens seit Benedict Andersons Publikation über die imagined communities ist bekannt, dass das Schulwesen eine wichtige Rolle für die Etablierung nationaler Geschichtsbilder spielt. Dabei handelt es sich nicht nur um die gemeinsamen Curricula, sondern auch – oder vor allem – um die Grundfähigkeiten wie Schreiben und Lesen, die einst den Zugang zu den Massenmedien des 19. Jahrhunderts eröffneten. Um diese Ziele zu erreichen, musste jedoch zunächst der Weg zur Schule gefunden werden und zwar nicht im metaphorischen, sondern in ganz wörtlichem Sinne. Besonders in ländlichen Gebieten stellten lange Entfernungen oder schwierige Wetterbedingungen (von finanziellen Schwierigkeiten ganz abzusehen) große Hürden dar, die sich letztendlich auf die Teilhabe am Bildungswesen und somit auf Herausbildung gemeinsamer Vergangenheitsvorstellungen auswirkten.
Während anfangs Sammlungen von historischen Objekten, die später in Museen mündeten, auf Privatinitiativen von Mäzenen zurückgingen, übernahm in der Moderne der Staat zunehmend die finanzielle Förderung der Geschichtsschreibung. Diese Verstaatlichung der Erinnerungskultur fand jedoch gleichzeitig mit ihrer Kommerzialisierung statt, denn der Tourismus expandierte ebenfalls in der Moderne. Die europäischen Nationalismen eröffneten ferner die Märkte für patriotische Souvenirs wie Repliken von Medaillen oder Postkarten mit Motiven aus den Nationalgeschichten. An diesen und anderen Beispielen lässt sich zeigen, dass Geld nicht erst in der Zeitgeschichte zum wirkungsmächtigen Faktor für die Herstellung der Erinnerungskulturen wurde. In der Spätmoderne prägen weitere nicht-menschliche Akteure das kulturelle Gedächtnis, wie beispielsweise Suchmaschinenalgorithmen und soziale Netzwerke im digitalen Umfeld.
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