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Klagelieder aus den Bergen: Migration, Erinnerung und Musikalischer Ausdruck

Dr. habil. Martin Greve

Der Name Dersim – die heutige Provinz Tunceli – ist in der Türkei ein Mythos, verschrien als kurdisch, rebellisch und ungläubig. Gleichzeitig aber ist Musik aus der Region Dersim heute in der gesamten Türkei populär. Martin Greve und Dilek Soileau vom Orient-Institut Istanbul suchten in den Bergen Ostanatoliens, in Istanbul und Europa nach Erinnerungen an vergessene Lieder einer traumatisierten Region.


Dersims blutige Geschichte

Das Schlüsselereignis der ostanatolischen Region Dersim liegt 86 Jahre zurück: Damals rückte die türkische Armee mit aller Gewalt in die bis dahin kaum kontrollierbaren Berge vor, um sie endgültig unter vollständige Kontrolle des Staates zu bringen. Überdies gehört bis heute ein Großteil der Bevölkerung von Dersim der Minderheit der Aleviten an – ethnisch/sprachlich sind die meisten Zaza, daneben leben auch Kurmanjis in der Region. Die frühe Republikzeit war von starkem türkisch-nationalistischem Druck geprägt und die Militäroperationen von Dersim waren – nach Aufständen im benachbarten Koçgiri im Jahr 1921 und in Bingöl im Jahr 1925 – Höhepunkt und Abschluss einer überaus unruhigen und blutigen Zeit. Nach offiziellen Angaben tötete die türkische Armee in den Jahren 1937 und 1938 in Dersim über 13.000 Menschen. Die Erinnerung an die Massenmorde prägt bis heute die Region und ihre Menschen, selbst in der dritten Generation empfinden sich viele bis heute als traumatisiert.

Selbst in den 1990er Jahren räumte die türkische Armee im Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erneut zahlreiche Dörfer der Region. Viele Lieder beklagen die Toten und die blutigen Kämpfe, aber auch Opfer von Lawinen oder der großen Erdbeben von Erzincan im Jahr 1939 und Varto im Jahr 1966. Es ist eine unruhige Region, traditionell ein Rückzugsgebiet für Minderheiten: Zaza, Kurden und – bis zum Völkermord im Jahr 1915 – auch für Armenier. Die heutige Provinz Tunceli, die von der Bevölkerung noch immer inoffiziell Dersim genannt wird, ist die einzige der Türkei mit alevitischer Mehrheit; hier regiert der einzige kommunistische Bürgermeister des Landes.

Feldforschung in einem traumatisierten Land

In einem zweijährigen DFG-finanzierten Projekt sollten zum einen sowohl verlorene als auch noch immer bestehende Musiktraditionen erforscht und zum anderen ihr Wandel im Zuge von Urbanisierung, Migration und Medialisierung behandelt werden. Die diesbezügliche Feldforschung fand über weite Teile in Zeiten der Covid-19-Pandemie statt. Immer wieder mussten Reisen abgebrochen werden; gerade ältere Menschen, die wir zu ihren Erinnerungen an das Musikleben vergangener Zeiten and an alte Traditionen befragen wollten, hatten Angst, sich zu infizieren. Das Musikleben war zum Stillstand gekommen und in Großstädten wie Istanbul, Berlin und Amsterdam war es schwierig, Musikerinnen und Musiker, Musikgruppen oder aktive Vereine zu finden. Jedoch erwies sich eine grundlegende Idee des Projektes als Glücksfall, nämlich die Feldforschung zu zweit: Die aus der Region Koçgiri, westlich von Dersim, stammende Sozialanthropologin Dilek Soileau, Kurdin und Alevitin, und ich als ausländischer Musikethnologe. In den Dörfern wurden wir beinahe als Familie wahrgenommen, was Gespräche immer wieder erleichterte. Außerdem eröffneten sich uns vollkommen unterschiedliche Netzwerke: Während man Dilek Soileau an ältere Frauen mit „brennenden Stimmen“ empfahl – also solche, die Klagelieder singen konnten, brachte man mich zu männlichen Sängern des Dorfes. Insgesamt reisten wir mehrfach durch Teile der Provinzen Sivas-Koçgiri, Erzincan, Tunceli (das ehemalige Zentral-Dersim), Bingöl bis nach Varto südlich von Erzurum.

Während Dilek Soileau auch außerhalb unserer gemeinsamen Forschungsreisen im Zentrum der Region in Tunceli blieb und ständig neue Kontakte knüpfte, arbeitete ich in Istanbul und reiste nach Berlin und Paris, stets auf der Suche nach weiteren Gesprächspartnerinnen und -partnern mit Dersimer-Herkunft. Bei einer weiteren gemeinsamen Feldforschung in Berlin, Köln und Amsterdam tauschten wir erneut unsere Rollen und ich wurde der „zuhause“ forschende Einheimische und Dilek Soileau die Ausländerin. Daneben sammelten wir historische Musikaufnahmen, die uns ein Bild von Musiktraditionen vermittelten, die heute verschwunden sind. Mehrere lokale Sammler[1] hatten seit Jahrzehnten in den Dörfern Lieder aufgenommen und einige überließen uns ihre Sammlungen, andere fanden wir – vor allem während der internet-fokussierten Zeit der Pandemie – auf YouTube.

Kurden, Aleviten, Zaza und der Weg der Wahrheit

Jenseits der konkreten Erforschung von Musiktraditionen des Großraums Dersim hat die Studie die Relevanz von ethnischen, religiösen und regionalen Identitäten für die Musik und das Musikleben in der Türkei untersucht. Fragen der Zugehörigkeit sind in der Region Dersim hochgradig politisiert und werden ständig diskutiert. So gibt es unter explizit kurdisch auftretenden Musikerinnen und Musikern zahlreiche Dersimer, während andere eine Zuordnung als kurdisch entschieden ablehnen und sich in ihren Liedern für die Erneuerung der Zaza-Sprache oder das Alevitentum einsetzen. Auch in den bekannten linken Gruppen der Türkei finden sich zahlreiche Menschen mit Dersimer-Herkunft. Gerade die traditionelle Religion Dersims, der „Weg der Wahrheit“ (Zaza: Raa Heqi), war für die Musik der Region prägend und keine religiöse Zeremonie geschah ohne von der Langhalslaute Tomir begleitete Lieder. Tatsächlich lässt sich bei der Analyse von historischen Musikaufnahmen jedoch weder ein „kurdischer Musikstil“ feststellen noch ein „Zaza-Musikstil“ oder ein „alevitischer Stil“. Vielmehr wanderte Musik offenbar stets zwischen Regionen, Sprachen und Religionen, wie etwa das Beispiel der gestrichenen Fiedel Kemençe und der westlichen Violine zeigt. Während erstere vermutlich von griechischen Dörfern aus in die Region kam, verbreitete sich die Violine von armenischen Missionsschulen aus in kurdische und Zaza-Dörfer. Nach den Gewalterfahrungen der 1930er Jahre wurde vor allem die Violine zum Begleitinstrument von Klageliedern, die nun – wie die Kemençe – aufrecht gespielt wird, gestützt auf die Knie und nicht mehr am Hals gehalten. Mit dem wachsenden Einfluss westlicher Musik verschwand die Kemençe (eine Ausnahme stellt die Region Koçgiri dar, wo die Kemençe immer noch verwendet wird) und Geiger (eine männlich geprägte Domäne in Dersim) übernahmen erneut westliche Spieltechniken, die in den Jahrzehnten zuvor keine Rolle gespielt hatten.

Vom Dorf in die Großstadt

Spätestens seit den 1960er Jahren verließen immer mehr Menschen ihre Dörfer und alte und neue Städte der Region Dersim wuchsen zu urbanen Zentren heran mit professioneller Musikerziehung, Musikcafés und Kassettenläden. Istanbul lockte nicht nur Arbeitskräfte an, sondern auch Familien, die vor Kämpfen flüchten mussten, und schließlich Musikerinnen und Musiker, die in der aufsteigenden türkischen Musikindustrie Karriere machen wollten. Vor allem aber in Europa fanden wir überall private türkische Musikschulen, in denen Musikerinnen und Musiker mit Dersimer-Herkunft unterrichteten. Auch zahlreiche ältere Geistliche des „Wegs der Wahrheit“ leben heute, unbemerkt von ihren deutschen Nachbarn, in Berlin oder Köln, wo sie Zeremonien erneut auf Zaza durchführen oder alte und neue religiöse Lieder über das Internet verbreiten. Seit den 1990er Jahren breitete sich eine nostalgische Sehnsucht aus, die zu einer Wiederbelebung des Mythos Dersim und seiner Musik führte.

 


[1] Es handelt sich hier ausschließlich um männliche Personen.

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