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Mit den Augen des Anderen sehen: Deutsche auf Reisen im Frankreich Ludwigs XIV.

Prof. Dr. Hendrik Ziegler

Ein Klick, und man taucht ein in eine andere Welt: Wie sah es im Schloss des Sonnenkönigs aus? Welche Pariser Sehenswürdigkeiten musste man unbedingt gesehen haben? Und wie verlief die Weiterreise aus den Zentren der Macht nach Toulouse, Lyon oder Marseille? Antworten auf diese Fragen sind auf der deutsch-französischen Webseite ARCHITRAVE zu finden.

Sie waren selbst schon einmal in Frankreich im Urlaub, vielleicht auch schon in Paris oder Versailles? Dann schauen Sie doch unter dem Reiter „Visualisierungen“ auf einer der drei interaktiven Karten einmal nach, ob eine Stadt, ein Bauwerk oder ein Denkmal, das Sie besonders fasziniert hat, bereits um 1700 von einem deutschen Reisenden erwähnt, beschrieben oder gezeichnet worden ist.

Auf der Karte von Paris können Sie sogar einen historischen Stadtplan von 1733 über eine Karte der heutigen Stadt einblenden: Eine Zeitreise durch die Straßen der Metropole beginnt, wie sie sich vor 300 Jahren gezeigt hat. Die von den Reisenden besuchten oder kommentierten Orte sind georeferenziert. Ein einfacher Klick und Sie erhalten Basisinformationen dazu. Und das Beste: Sie können unter „Erwähnungen“ Autoren anklicken, die den Ort beschrieben haben. Und schon tauchen Sie ein in die faszinierenden Schilderungen unserer reisenden Vorfahren.

Nun ist es aber nicht immer einfach, sich zurechtzufinden, wenn man plötzlich am Bildschirm in die Zeit Ludwigs XIV. zurückversetzt wird: Daher bietet eine „Timeline“ alle notwendigen historischen Rahmendaten zum Scrollen in einem übersichtlichen Zeitstrahl. 


Zweisprachigkeit: Deutsche Quellen für eine internationale Leserschaft

Die Webseite bietet erstmals Zugang zu Reiseberichten und Aufzeich­nungen deutscher Architekten und Diplomaten, die Frankreich – insbesondere Paris und Versailles – zwischen 1685 und 1723 besucht haben. Diese Zeitspanne war kriegerisch, so dass die Reisetätigkeit temporär stark eingeschränkt war. Nur wenige ausführliche Berichte aus dieser Zeit haben sich erhalten. Sechs der für die Kunst- und Kulturgeschichte aussagekräftigsten Texte wurden ausgewählt und ins Französische übersetzt. Drei seien kurz vorgestellt:

  • Wie durch ein Wunder haben sich auf Glasnegativen und Papierabzügen über 130 Seiten erhalten, die uns Christoph Pitzler – ein weiter kaum in Erscheinung getretener Hofarchitekt im Dienst des Herzogs von Sachsen-Weißenfelds – von seinem Aufenthalt in Frankreich 1685 bis 1688 hinterlassen hat. Das Original des Reisejournals gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen; vermutlich ist es verbrannt. Der etwas ungelenke Zeichner bietet wichtige, zum Teil einzigartige Einsichten in den Thronsaal Ludwigs XIV., die beiden Theater im Pariser Palais des Tuileries oder die Ausstattungen wichtiger Kirchen und Privatpaläste, wie der Abtei von Val-de-Grâce oder des Hôtel de La Vrillière.
  • Da ist der hochrangige österreichische Diplomat Graf von Harrach, der auf der Rückreise von seiner Dienstreise nach Madrid im Winter 1698 für mehrere Wochen in Paris und Versailles Station machte. Obwohl er inkognito reiste, wussten alle, wer er war: So erhielt er Zugang zu weiten Teilen des Schlosses und des Gartens von Versailles – etwa der berühmten Gesandtentreppe. Diese kritisierte er allerdings als eine bauliche „Notlösung“. Das selbständige, kritische Urteil dieses geübten Tagebuchschreibers bietet authentische Einsichten in die Wahrnehmung Frankreichs aus ausländischer Sicht.
  • Jeder von uns hat schon einmal einen 50-Euro-Schein in der Hand gehalten. Darauf ist der fränkische Architekt Balthasar Neumann zu sehen. Er wurde 1723 nach Frankreich geschickt, als er gerade die ersten Entwürfe für den Neubau der Würzburger Residenz erarbeitete. Die Briefe an seinen Dienstherrn, den Würzburger Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn, sind in fränkischer Mundart verfasst. Sie gehören zu den wichtigsten Schriftquellen überhaupt, die uns von einem deutschen Barockarchitekten erhalten geblieben sind. Sie wurden hier erstmals in ein flüssig lesbares, modernes Französisch übertragen – und damit leichter zugänglich gemacht für eine internationale Leserschaft.

Die Webseite ARCHITRAVE ist sowohl in einer deutschen als auch in einer französischen Version aufrufbar. Sie ist das Ergebnis einer engen, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Hier haben nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden Ländern über mehrere Jahre zusammengearbeitet, sondern auch ein ganzes Team, das für das Übersetzen und Lektorieren der Texte zuständig war. Anders wären die schwierigen Transkriptionen der in deutscher Frakturschrift verfassten Texte und deren Übersetzungen und Kommentierungen nicht gelungen.


Digitale Editionen: Valide Daten zur freien Nutzung

Aber wozu das Ganze digital? Gehören solche gewichtigen und zudem unterhaltsamen Reiseberichte und -journale nicht zwischen zwei Buchdeckel, damit sie bequem in der Studierstube gelesen werden können? Welche Vorteile bringt das digitale Format mit sich?

Alle Interessierten mit Internetanschluss haben jederzeit und weltweit Zugriff auf alle Texte und Komponenten der Webseite, nicht nur die „Happy few“, die sich eine Buchedition leisten können oder Zugang zu einer Bibliothek haben. Bei über sechs Millionen Zeichen käme eine ausgedruckte Edition auf sechs Bände. Alle Texteditionen werden im sogenannten TextGrid Repository für lange Zeit gespeichert und zugänglich gehalten – gepflegt von der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Digitales Edieren – vor allem nach den Prinzipien des Open Access und Open Source – bietet also einen langfristigen, niedrigschwelligen und egalitären Zugang zu neuem Wissen.
À propos, neues Wissen: Um z. B. auf Karten sichtbar machen zu können, welche Orte die Reisenden gesehen haben, müssen alle diesbezüglichen Erwähnungen georeferenziert und mit bereits bestehenden Normdaten abgeglichen werden. Das ermöglicht zudem die Nachnutzung dieser Daten, indem andere Projekte auf die validen Registereinträge aus ARCHITRAVE verweisen können – eines der primären Anliegen des sogenannten „Semantischen Web“. Das Digitale ist vor allem aber auch darin stark, eine erschöpfende Tieferschließung textlicher Phänomene zu ermöglichen, also Auszählungen – etwa bestimmter Wörter oder semantischer Konstruktionen. So kann etwa statistisch erfasst werden, ob und mithilfe welcher wertenden Adjektive wie zum Beispiel „gut“, „schlecht“ oder „schlicht“, aber auch Verneinungen oder Bejahungen ästhetische Urteile gefällt wurden. Im Textgrid Repository lassen sich mittels sogenannter „Voyant Tools“ solche Sprachanalysen schnell und effizient durchführen.

Das Auge des Fremden dient als Spiegel, in dem sich das Eigene erst deutlich abzeichnet. Die hier erschlossenen deutschen Reiseberichte bieten die Möglichkeit, den Stellenwert und Vorbildcharakter französischer Kunst und Kultur im Europa an der Schwelle zur Aufklärung genauer auszuloten. Dabei wird, bei allem Interesse am Nachbarland, durchgängig auch eine merkwürdige Ferne zu Frankreich deutlich. Dieser Pendelschlag zwischen bewundernder Ablehnung und widerstrebender Anziehung zieht bis heute in den Bann.

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